Gleichungen

[ Al-Khwarizmi ]

Die eigentliche Geburtsstunde der klassischen Algebra wird vielfach mit der Entstehung des Buches "al-jabr wa'l muqabalah" des al-Khwarizmi gleichgesetzt. Diese Algebra (der Titel des Buches hat ja dem ganzen Gebiet den Namen gegeben) ist ein Lehrbuch der praktischen Elementarmathematik. Nach den Worten des Autors enthält das Buch alles,

"was aus der Arithmetik Überaus brauchbar ist, was Menschen bei Vererbungsangelegenheiten brauchen, bei Teilungsproblemen, bei Rechtsstreitigkeiten, im Handel, und überhaupt bei allen gegenseitigen Beziehungen; oder auch bei der Landvermessung, beim Graben von Kanälen, bei geometrischen Berechnungen und verschiedenen anderen Dingen."

Das Buch zerfällt in drei Teile. Das Herzstück ist der erste Teil, in dem Gleichungen vom ersten und zweiten Grad systematisch behandelt und aufgelöst werden. Im zweiten Teil werden praktische Vermessungsaufgaben, im dritten Teil Erbteilungsaufgaben mit dem theoretischen Rüstzeug des ersten Teiles gelöst. Mit diesem ersten

Teil wollen wir uns nun beschäftigen. Alle Gleichungen werden verbal ausgedrückt, es kommen keine eigenen Symbole vor. Zunächst werden sechs kanonische Gleichungstypen angeführt, auf die al-Khwarizmi alle angegebenen Probleme zurückführen

kann:

(1)

= bx

(2)

= b

(3)

ax = b

(4)

+ bx = c

(5)

+ c = bx

(6)

= bx + c

 

Die Koeffizienten a, b, c sind dabei positiv. Negative Zahlen und 0 werden nicht als Koeffizienten zugelassen, und Gleichungen, die keine positiven Lösungen haben, werden nicht behandelt. Jeder dieser Gleichungstypen wird mittels einer Regel gelöst, die auf geometrischem Weg bewiesen wird.

Zur Illustration führen wir die Vorgangsweise al-Khwarizmis zu Typ 4 an:

"Das folgende Beispiel ist ein Beispiel von Quadraten und Wurzeln gleich einer Zahl. Ein Quadrat und 10 Wurzeln ist gleich 39 Einheiten. Die Frage in diesem Typ von Gleichungen ist daher folgende: Welches Quadrat gibt zusammen mit 10 seiner Wurzeln eine Summe von insgesamt 39? Die Lösungsmethode für diesen Typ von Gleichungen besteht darin, die Hälfte der Anzahl der Wurzeln zu nehmen. Die Anzahl der Wurzeln in unserer Aufgabe ist 10. Nimm deshalb 5, das mit sich selbst multipliziert 25 ergibt, einen Betrag, den du zu 39 dazuzählst. Das gibt 64. Daraus ziehst du die Wurzel, das ist 8. Von diesem Wert ziehst du die Hälfte der Anzahl der Wurzeln, also 5, ab, und du erhältst 3. Die Zahl 3 stellt eine Wurzel des gesuchten Quadrats dar, das selbst 9 ist. 9 gibt also das Quadrat an.

Auf ähnliche Weise, wieviele Quadrate auch immer gegeben sind, muß immer auf ein Quadrat reduziert werden. Das folgende ist ein Beispiel für diese Reduktion: Zwei Quadrate und 10 Wurzeln sind gleich 4 Einheiten. Die Frage in dieser Art von Gleichungen ist diese: Wie sehen zwei Quadrate aus, die zusammen mit 10 Wurzeln als Summe 48 ergeben? Zunächst müssen die Quadrate auf eines reduziert werden. Da ein Quadrat die Hälfte von zwei Quadraten ist, muß man offensichtlich alle gegebenen Terme in diesem Problem durch 2 dividieren. Das gibt ein Quadrat mit 5 Wurzeln gleich 24 Einheiten."

Nun löst al-Khwarizmi das reduzierte Problem gemäß dem oben angeführten Rezept und kommt auf einen Wert von 9 für das gesuchte Quadrat. Schließlich führt er eine analoge Reduktion (durch Multiplikation mit 2) für folgende Aufgabe vor:

"Ein halbes Quadrat und 5 Wurzeln ist gleich 28 Einheiten."

Dann beschließt er die Ausführungen zu diesem Gleichungstyp mit den Worten:

"Auf diese Weise mußt du dieselbe Operation auf alle Quadrate, wieviele auch gegeben sind, anwenden und auch auf alle Wurzeln und Einheiten."

Nachdem al-Khwarizmi auf diese Weise die Lösungsrezepte fur alle sechs Gleic ungstypen angegeben hat, führt er für jeden Fall einzeln geometrische Beweise vor.

"Wir haben genug über die sechs Gleichungstypen gesagt, was die Zahlen betrifft. Nun ist es jedoch notwendig. auf geometrischem Weg die Richtigkeit von dem zu zeigen, was wir über die Probleme in Zahlen gesagt haben. Deshalb ist unsere erste Proposition jene, daß ein Quadrat und 10 Wurzeln gleich 39 Einheiten sind.

Zum Beweis konstruieren wir ein Quadrat mit unbekannter Seite, das das Quadrat repräsentiert, das wir mit seiner Wurzel finden wollen. Sei ab das Quadrat, dessen Seiten eine Wurzel darstellt. Wenn wir eine dieser Seiten mit einer Zahl multiplizieren, ist es offensichtlich, daß das Ergebnis dieser Multiplikation eine Anzahl von Wurzeln ist, die gleich der Wurzel derselben Zahl ist. Da 10 Wurzeln mit dem Quadrat gegeben waren, nehmen wir den vierten' Teil der Zahl 10 und legen an jede Seite des Quadrats eine Fläche äquidistanter Seiten, deren Länge gleich jener des konstruierten Quadrats und deren Breite ist, dem vierten Teil von 10. Deshalb sind vier Flächen äquidistanter Seiten an das erste Quadrat a b angelegt. Jede dieser Flächen hat die Länge einer Wurzel des Quadrats

a b und - wie wir gerade gesagt haben - die Breite .Das sind die Flächen c, d, e, f. Die Größe der Fläche in

jeder der vier Ecken, die man durch Multiplikation von mit findet, vervollständigt, was von der größeren Fläche fehlt. Daher vervollständigen wir die Zeichnung der größeren Fläche durch Addition der vier Produkte,

jedes mal . Das Gesamte dieser Multiplikation ergibt 25.

Und nun ist es offensichtlich, daß das erste gezeichnete Quadrat, das das Quadrat der Unbekannten repräsentiert, und die vier darangelegten Flächen zusammen 39 ausmachen.

Addieren wir dazu 25, das ist die Fläche der vier kleinen Quadrate, die in den vier Ecken des Quadrats plaziert wurden, so ist die Zeichnung des großen Quadrats. das wir mit CH bezeichnen, vervollständigt. Daher ist die Gesamtsumme 64, die Wurzel davon 8, und damit ist die Seite der vervollständigten Figur bestimmt. Ziehen wir also von 8 zweimal den vierten Teil von 10 ab, wie an den Enden des großen Quadrates eingezeichnet, so bleibt 3, und dies ist gleich einer Seite des ersten Quadrats a b.

Diese Zahl 3 drückt daher eine Wurzel des gesuchten Quadrats der Unbekannten aus, und 9 ist das Quadrat selbst".

Nun führt al-Khwarizmi aus, daß seine Regel zur Lösung dieses Gleichungstyps nichts anderes ist, als das Nachvollziehen des geometrischen Beweises.

Auch gibt er dann noch einen zweiten geometrischen Beweis an. Al-Khwarizmi gibt auch an, wie man jedes gegebene Problem auf eine der sechs Standardformen, die wir oben angeführt haben, reduziert. Er erreicht das mittels zweier Operationen, die er "al-jabr" und "al-muqabalah" nennt. Aus ersterem ist ja der Name Algebra enstanden.

"Al-jabr" bedeutet soviel wie Vervollständigen, Wiederherstellen, Ganzmachen. Diese Operation bedeutet das Hinüberschaffen eines negativen Ausdrucks auf die andere Seite der Gleichung. Hat man beispielsweise eine Gleichung (in moderner Schreibweise) = 40 - 4, so ergibt die Anwendung der Operation "al-iabr" die Gleichung 5 = 40.

Der Ausdruck "al-muqabalah" bedeutet soviel wie Ausgleich. Gemeint ist damit der Prozeß der Reduktion positiver Ausdrücke derselben Potenz auf beiden Seiten der Gleichung. Ist eine Gleichung 50 + = 29 + 10x gegeben, so erhält man durch die Operation "al-muqabalah" die reduzierte Form 21 + = 10x.

Diese beiden Operationen mit den vier Grundoperationen, die al-Khwarizmi auch für die verschiedenen Potenzen erklärt, erlauben es dem Autor, alle von ihm behandelten Probleme auf die Lösung der sechs Standardtypen zurückzuführen.

Am Ende des ersten Teiles der Algebra stellt al-Khwarizmi mehrere Übungsaufgaben zu den einzelnen Gleichungstypen zusammen. Dabei werden zur Illustration reine "Zahlenbeispiele" vorgeführt. Wir geben eine solche Illustration für den von uns behandelten Fall (al-Khwarizmi drückt sogar die Zahlen verbal aus):

"Multipliziere ein Drittel von x und eine Einheit mit ein Viertel von x und eine Einheit, um als Produkt 20 zu erhalten".

"Erklärung: Du multiplizierst x mit x und erhältst von , und eine Einheit multipliziert mit x gibt den

Summanden x. Analog gibt x multipliziert mit einer Einheit x, und dann gibt eine Einheit mal einer Einheit eine Einheit. Dann ergibt diese Multiplikation von und x und x und eine Einheit gleich 20 Einheiten. Du subtrahierst eine Einheit von den 20 Einheiten (al-muqabalah), erhält 19 Einheiten gleich von zusammen mit x und x. Nun vervollständigst du auf ein Quadrat, d.h. du multiplizierst alles mit 12. Das gibt und 7x gleich 228. Dann halbiere die Wurzeln, d.h. du teilst sie in zwei gleiche Teile und multiplizierst die Hälften mit sich. Das ergibt 12. Dies addierst du zu 228, und du hast 240 . Von der Wurzel daraus, 15, subtrahierst du 3 und bekommst 12 als Wurzel des Quadrats. Dieses Problem hat uns also auf jenen Abschnitt geführt, in dem wir den Typ "Quadrat und Wurzeln sind gleich Zahlen " behandelt haben."

Die Algebra des al-Khwarizmi wurde zu einem Standardwerk für die Behandlung linearer und quadratischer Gleichungen nicht nur bei den Arabern, sondern durch die Übersetzung ins Lateinische auch für die europäische Mathematik.

 

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