Die Antike

[ Die lonische Periode ]

Thales von Milet lebte um 600 v. Chr. Er war der erste ionische Naturphilosoph und beschäftigte sich neben der Mathematik auch mit Philosophie und Astronomie. Er lehrte, daß das Wasser der Ursprung aller Dinge sei, und sagte eine Sonnenfinsternis richtig voraus. Seine mathematischen Kenntnisse soll er zum Teil von den Babyloniern bezogen haben. Er ist aber jedenfalls der erste Mathematiker, der Beweise für seine Sätze gab. In der Geschichte der Mathematik des Eudemos von Rhodos (um 300 v. Chr.) heißt es über Thales:

  1. Er war der erste, der bewies, daß der Kreis von seinem Durchmesser halbiert wird.
  2. Er hat als erster erkannt und ausgesprochen, daß in einem gleichschenkeligen Dreieck die Basiswinkel gleich sind,
  3. Er entdeckte zuerst, daß, wenn zwei Geraden sich schneiden, ihre Scheitelwinkel gleich sind.
  4. Er bewies den Satz von der Kongruenz zweier Dreiecke, die in einer Seite und zwei Winkeln übereinstimmen."

Den nach ihm benannten Satz soll er von den Ägyptern gelernt haben, und er soll für seine Entdeckung einen Stier geopfert haben.

Thales ist jedenfalls der erste Mathematiker in der Geschichte der Menschheit, dem spezielle Resultate zugeschrieben werden und der Beweise gegeben hat.

Pythagoras von Samos lebte um 550 v. Chr.; er war ein vielseitiger Gelehrter, und er begründete eine Art von Naturreligion. Seine Lehren wurden von der Schule der Pythagoräer verbreitet und weiterentwickelt. Seine Jünger lebten nach bestimmten Vorschriften, sie galten in der Antike als eine Art von Hippies. Sie glaubten an die Unsterblichkeit der Seele und die Seelenwanderung. Sie glaubten, daß Gott die Welt nach Zahlen und Zahlenverhältnissen geordnet habe. Nach ihrer Lehre besteht die Weit aus Gegensätzen. Was Einheit in diese Gegensätze bringt und sie zu einem Kosmos vereinigt, ist die Harmonie, und diese beruht eben auf Verhältnissen ganzer Zahlen, wie sie auch etwa in der Musik oder in der Geometrie auftreten. Die Harmonielehre der Pythagoräer wurde zu Beginn der Neuzeit nochmals aufgegriffen und von Johannes Kepler (um 1600) in seinem berühmten Werk "Harmonice Mundi'' zu einem großartigen Weltsystem vereinigt.

Man weiß nicht, welche Entdeckungen der Pythagoräer von Pythagoras selbst und welche von seinen Schülern stammen. Die bedeutendsten seiner Schüler sind Hippasos von Kroton und Archytas von Tarent. Hippasos geriet nach dem Tod des Pythagoras mit dem Bund der Pythagoräer in Konflikt, weil er die Lehren des Pythagoras weiterentwickelte und ausbaute und zum Teil an Nicht-Pythagoräer weitergab. Er wurde deshalb aus dem Bund ausgestoßen und kam später bei einem Schiffbruch um; die Pythagoräer betrachteten dies als die Strafe der Götter für seinen Frevel. Auch Archytas baute die Lehren des Pythagoras aus. Er war sieben Jahre hindurch Stratege seiner Vaterstadt Tarent und der Lehrer von Platon. Man schreibt ihm die Einteilung des "Quadriviums" im Unterricht in die vier Zweige Mathematik, Geometrie, Musik und Astronomie zu. Zusammen mit dem "Trivium" - Grammatik, Rhetorik und Dialektik - bildete es die ''Artes liberales", die bis zum Beginn der Neuzeit herauf die Grundlage des Schulunterrichts waren.

Worin bestanden nun die mathematischen Kenntnisse der Pythagoräer? in der Geometrie kannten sie drei der fünf regulären Körper, nämlich Tetraeder, Würfel und Dodekaeder, sowie das regelmäßige Fünfeck, das sie auch konstruieren konnten. Die Lehre von den Parallelen, den Winkeln, vom Dreieck, von der Flächengleichheit und der Flächenverwandlung, von den Winkeln am Kreis und von der Ähnlichkeit wurde von ihnen weitgehend systematisiert. In der Arithmetik hatten die Pythagoräer eine ausgeprägte Zahlenmystik und beschäftigten sich daher besonders mit Zahlentheorie. Die Begriffe "vollkommene Zahl" und "befreundete Zahlen" stammen von ihnen, auch kennen sie bereits die Regeln zur Berechnung pythagoräischer Zahlentripel. Sie haben auch Kenntnisse über Proportionen sowie über die Auflösung linearer Gleichungssysteme und der quadratischen Gleichung. Die Grundlage der Akustik, nämlich die Erkenntnis, daß Töne von Saiten und Flöten, deren Längen sich wie ganze Zahlen verhalten, harmonisch klingen, stammt ebenfalls von ihnen. Jedenfalls kann man von den Pythagoräern sagen, daß sie als erste "reine Mathematik" in großem Stil betrieben. So schreibt Eudemos über Pythagoras:

"Es folgte Pythagoras, der den wissenschaftlichen Betrieb der Geometrie in das System der höheren Bildung einbezog. Seine Untersuchungen galten ihren obersten Prinzipien, und seine theoretischen Forschungen bewegten sich frei von materiellen Einflüssen im Bereich des reinen Denkens".

Außerhalb der Pythagoräer gab es in der Ionischen Periode noch mehrere bedeutende Mathematiker. Hier ist zunächst Anaxagoras von Klazomenai (um 450 v. Chr.), der Lehrer des Perikles, zu erwähnen. Er ist vor allem als Naturphilosoph bekannt und hat sich auch Verdienste um die Astronomie erworben. Seine Naturphilosophie ist materialistisch, so wie die des Demokritos von Abdera (um 400 v. Chr.), der die Lehre vertritt, daß die Materie aus Atomen aufgebaut sei. Nach Anaxagoras und Demokritos werden die Sterne von der Wirbelbewegung des Äthers ungeordnet herumgerissen. Anaxagoras und Demokritos standen damit in schroffem Gegensatz zu den Pythagoräern, nach deren Lehre sich die Gestirne auf Grund von göttlichen Gesetzen in ewig gleicher Weise auf ihren Kreisbahnen bewegen. Bei Anaxagoras und Demokritos regiert also der Zufall, bei den Pythagoräern göttliche Ordnung. Gegen die materialistischen Lehren der ersteren traten dann verschiedene Philosophen auf, wie etwa Sokrates und Platon, die diese materialistischen Lehren für Gottlosigkeit und Sittenverfall verantwortlich machten (und dafür sogar noch von den heutigen Vertretern der materialistischen Geschichtsauffassung abqualifiziert werden). In der Mathematik war Anaxagoras einer der ersten, der sich mit der Quadratur des Kreises beschäftigte. Demokritos entdeckte laut Archimedes die Volumsformel für Kegel und Pyramide (und zwar im wesentlichen durch Verwendung einer Art von Cavalierischem Prinzip), er ist somit einer der ersten Vorläufer der Infinitesimalrechung (was mit seiner Atomtheorie korrespondiert).

Hippokrates von Chios und Theodoros von Kyrene lebten in der Mitte des fünften Jahrhunderts vor Christus. Der erstere hatte bedeutende Kenntnisse aus der Elementargeometrie, z.B. über den Zusammenhang zwischen Peripheriewinkel und Bogen, über die Konstruktion des regelmäßigen Sechsecks, über die Verwandlung von Polygonen in flächengleiche Quadrate. Er zeichnete sich durch eine hervorragende Beweistechnik aus und stellte hohe Anforderungen an die Strenge der Beweise.

Besonders bekannt wurde er durch die erstmalige Quadratur einer krummlinigen Fläche, nämlich der Kreismöndchen. Theodoros hat laut Platon die Irrationalität von 0- bis V-1-7 bewiesen, während die Irrationalität von schon vorher den Pythagoräern bekannt war. Die Entdeckung der Irrationalität von also die Erkenntnis, daß sich nicht alle Strecken durch Verhältnisse ganzer Zahlen ausdrücken lassen, war die erste Unmöglichkeitserkenntnis in der Mathematik und löste die erste Grundlagenkrise in der Mathematik aus.