Stochastik

[ Die Anfänge der Wahrscheinlichkeitsrechnung ]

Üblicherweise wird als Ursprung der Wahrscheinlichkeitstheorie die Beschäftigung mit Problemen des Glücksspiels angesehen. Dies ist aber ein weitverbreitetes Fehlurteil. Vielmehr hat eine ganze Reihe von Problemen zur Ausbildung der Methoden und der Begriffswelt der Wahrscheinlichkeitsrechnung geführt.

Eine der Wurzeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung liegt in Problemen der Verarbeitung von numerischem Datenmaterial, weiches etwa bei statistischen Erhebungen, Beobachtungsreihen oder bei wiederholten Experimenten auftritt. Erhebungen wie z.B. Volkszählungen wurden schon in der Antike gemacht, meist um die notwendige Basis für die Steuereintreibung zu erlangen, oder es wurden Bestandsaufnahmen von Provinzen durchgeführt. Im 16. Jahrhundert wurden in London erstmals systematisch Sterbetafeln aufgestellt, um etwa die Auswirkungen von Pestepidemien auf zuzeichnen.

Im 14. Jahrhundert wurden die ersten Versicherungsgesellschaften gegründet, und zwar in Holland und Italien; die Versicherungsobjekte waren zunächst Schiffe. Auf Grund der über einen längeren Zeitraum erstreckten Beobachtungen der Unfälle von Handelsschiffen wurde eine Prämie von 12-15% zur Abdeckung des Risikos verlangt.

Wie schon früher ausgeführt, wurde in der Renaissancezeit das Experiment als zentrales Hilfsmittel der Forschung in die Naturwissenschaft eingeführt. Es entstand bald das Bedürfnis, die bei wiederholten Messungen auftretenden Zufallsfehler abzuschätzen und zu eliminieren. Überhaupt beschäftigte der Zusammenhang zwischen Zufall und Kausalität vor allem die Philosophen schon seit der Antike. So stellte etwa Thomas Hobbes, ein englischer Philosoph des 17. Jahrhunderts, die Behauptung auf, daß man, gleichgültig, wie lange man ein Phänomen beobachtet, niemals ausreichend viel für ein absolutes Wissen dieses Phänomens erfahren könne.

Neben diesen Wurzeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung spielte natürlich auch die Beschäftigung mit Problemen, welche bei Glücksspielen auftreten, eine wichtige Rolle für das Entstehen der Wahrscheinlichkeitstheorie. Allerdings waren sich die Mathematiker, die dabei Pionierarbeit leisteten, meist bewußt, daß durch ihre Untersuchungen ganz allgemein eine Methode geschaffen wurde, um Gesetzmäßigkeiten der realen Welt zu untersuchen.

So schreibt etwa Christiaan Huygens in seinem Werk "De Ratiociniis in Ludo Aleae":

"Auf jeden Fall halte ich dafür, daß der Leser bei einem aufmerksamen Studium des Gegenstandes bemerkt , daß es hier nicht nur um Spiele geht, sondern daß hier die Grundlagen einer sehr interessanten und ergiebigen Theorie entwickelt werden."

Es war also auf jeden Fall das Bedürfnis vorhanden, Zufallserscheinungen zu untersuchen. Dementsprechend begann man im 16. Jahrhundert mit systematischen Überlegungen, welche wir als die Vorläufer unserer heutigen Wahrscheinlichkeitsrechnung ansehen können. Der erste Pionier in dieser Richtung war Geronimo Cardano. Er verfaßte ein Buch mit dem Titel "Liber de ludo aleae". In diesem Buch untersucht er systematisch die Möglichkeiten des Würfelspiels mit mehreren Würfeln. Spielwürfel, wie wir sie heute kennen, waren auch damals schon am populärsten. Allerdings sind auch Würfel mit anderer Anordnung der Augenzahlen auf den einzelnen Flächen erhalten, z.B. 9 gegenüber von 6, 5 gegenüber von 3, und 2 gegenüber von 4. (Die Griechen der Antike verwendeten sogar Spielsteine mit mehr als 6 Flächen.)

Für den Fall eines Spiels mit zwei Würfeln schreibt Cardano:

"Im Fall von zwei Würfeln gibt es sechs Würfe mit gleicher Augenzahl und 15 Kombinationen mit ungleicher Augenzahl. Letztere Anzahl gibt bei Verdoppelung 30, also gibt es insgesamt 36 Würfe."

Im anschließenden Kapitel wird das analoge Problem mit 3 Würfeln untersucht. Wiederum unterscheidet Cardano für verschiedene Augenzahlen, ob der erste Würfel oder der zweite Würfel die entsprechende Zahl zeigt:

"Würfe mit dreimal gleicher Augenzahl gibt es soviele wie Würfe mit zweimal gleicher Augenzahl im vorangegangenen Kapitel. Also gibt es sechs solche Würfe. Die Zahl der verschiedenen Würfe von drei Würfeln, mit zweimal gleicher Augenzahl und einer davon verschiedenen, ist 30, und jeder dieser Würfe entsteht auf drei Arten. Das ergibt 90. Wiederum ist die Anzahl der verschiedenen Würfe mit drei verschiedenen Augenzahlen 20, und jeder entsteht auf sechs Arten. Das macht 120. Also gibt es insgesamt 216 Möglichkeiten."

Danach wendet sich Cardano komplizierteren Aufgaben zu, etwa den Möglichkeiten, eine bestimmte Summe der Augenzahlen mit mehreren Würfeln zu erreichen. Dabei nähert sich Cardano bereits dem Begriff der Wahrscheinlichkeit. Im Falle von zwei Würfeln schreibt er:

"Der Punkt 10 besteht aus (5,5) und aus (6,4). Letzerer Fall kann auf zwei Arten auftreten, also ist die Gesamtanzahl,10 zu erhalten, gleich aller Möglichkeiten ... Im Fall von 9 gibt es (5,4) und (6,3), also ist es aller Möglichkeiten ... Die 8 entsteht aus (4,4), (3,5) und (6,2). Alle 5 Möglichkeiten sind daher ungefähr der Gesamtmöglichkeiten aller Würfe ... Der Punkt 7 entsteht aus (6,1), (5,2) und (4,3). Daher ist die Anzahl, die 7 zu bekommen, gleich 6, also der Gesamtheit aller Würfe. Der Punkt 6 ist wie 8, 5 ist wie 9, 4 wie 10, 3 wie 11 und 2 wie 12. So gibt es also eine allgemeine Regel, nämlich, wir müssen die Gesamtzahl aller Möglichkeiten betrachten, und die Zahl jener Würfe, die darstellt, wie viele Möglichkeiten für ein günstiges Resultat auftreten können. Diese Zahl vergleicht man mit dem Rest der Möglichkeiten, und gemäß diesem Verhältnis müssen die Einsätze gesetzt werden, damit unter gleichen Voraussetzungen gespielt wird."

Bezeichnet man mit n die Anzahl aller Möglichkeiten, mit m die Anzahl der günstigen Fälle, so schlägt also Cardano vor, die Einsätze im Verhältnis m : (n-m) zu setzen.

Das Problem der gerechten Aufteilung der Einsätze bei vorzeitigem Abbruch eines Würfel- oder Kartenspiels ist ein zentrales Problem in den frühen Untersuchungen zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Als einer der ersten hat es Luca Pacioli in einer Abhandlung diskutiert. Der Abschnitt über die "ungewöhnlichen" Probleme in seiner "Summa de arithmetica, geometria, proportioni e proportionalitá" enthält folgende Aufgabe: Zwei Mannschaften spielen ein Ballspiel. Sieger ist, wer zuerst 60 Punkte erreicht. Es wird um einen Preis von 22 Dukaten gespielt. Als das Spiel abgebrochen werden mußte, hatte eine Mannschaft 50 Punkte, die andere 30 Punkte. Wie soll das Preisgeld aufgeteilt werden?

Als Lösung schlägt Pacioli vor, das Preisgeld proportional zu den erzielten Punkten aufzuteilen. Die eine Mannschaft soll also 13,75 Dukaten erhalten, die andere 8, 25.

Cardano kritisiert diesen Lösungsvorschlag in dem Buch "Practica arithmetica generalis". Er bemängelt, daß von Pacioli die Anzahl der Punkte, die den Mannschaften noch zum Sieg fehlen, nicht berücksichtigt wird. Sein (allerdings ebenfalls unrichtiger) Vorschlag zur Lösung des Problems läßt sich so beschreiben:

Bezeichnet m die- Zahl der Punkte, die für den Sieg einer Mannschaft notwendig sind und hat das erste Team beim Abbruch Punkte, das zweite Punkte, so soll das Preisgeld im Verhältnis [1 + 2 +(m - n 1 ) 1: [1 + 2 + +(m - n 2 aufgeteilt werden.

Auch Niccolo Tartaglia beschäftigte sie mit diesem Problem in seiner Arbeit "Trattato generale di numeri e misure". Ein Abschnitt dieser Abhandlung diskutiert den "Fehler des Pacioli."

Er bemerkt darin:

"Diese Regel" d.h. Paciolis Lösungsvorschlag "ist unannehmbar und nicht gut. Den hat ein Spieler zufällig 10 Punkte, der andere keine, dann würde gemäß diese Regel der Spieler mit 10 Punkten den Gesamtpreis bekommen. Das ist offen sichtlich unsinnig."

Tartaglia gibt dann zunächst eine Lösung für sein "Gegenbeispiel" an (60 Punkt bedeuten den Gewinn des Spiels, 22 Dukaten ist der Einsatz jedes Teams, der Abbruch erfolgt bei 10 : 0 Punkten) : von 22 Dukaten sind Dukaten. Daher soll das Team mit den 10 Punkten 22 + Dukaten bekommen, das andere Team Dukaten. Ist der Punktestand 50 : 30, so hat die bessere Mannschaft 22 + Dukaten zu bekommen (da sie nun 20 Punkte voranliegt), die andere Dukaten.

Auch ein weiterer Großer der Wissenschaft beschäftigte sich mit dem Würfelspiel, nämlich Galilei. Dieser stellte experimentell fest, daß beim wiederholten Wurf von drei Würfeln die Augensumme 10 öfter auftritt als 9, obwohl beide Zahle durch 6 verschiedene Kombinationen erreicht werden können. Durch systematische Untersuchung der 216 Möglichkeiten, die beim Wurf von drei Würfeln auftreten können, bestätigte er dieses experimentelle Resultat durch di Theorie, indem er zeigte, daß es für 10 insgesamt 27 günstige Fälle gibt, für 9 aber nur 25.

Bis etwa zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts wurden für einzelne, speziell Probleme der Wahrscheinlichkeitsrechnung immer wieder spezielle Lösungswege angegeben. Der gemeinsame mathematische Hintergrund wurde dabei aber nicht erfaßt.

Mitte des siebzehnten Jahrhunderts beschäftigten sich Pascal, Fermat und Huygens mit Fragen der Wahrscheinlichkeitsrechnung und gaben dem Gebiet eine einheitliche Theorie. Viele bezeichnen diese drei Gelehrten als die eigentlichen Begründer der Wahrscheinlichkeitstheorie. Auch das Interesse von Pascal und Fermat an der Wahrscheinlichkeitsrechnung war durch die Beschäftigung mit dem Glücksspiel entstanden. Den beiden wurde nämlich von einem leidenschaftlichen Spieler, dem Chevalier de Meré, folgende Aufgabe gestellt (bei der es sich im wesentlichen u m Paciolis Problem handelt): Zwei Spieler vereinbaren eine Serie von Kartenpartien. Sieger soll jener sein, der zuerst n Partien gewonnen hat. Nun wird die Spielserie zu einem Zeitpunkt abgebrochen, in dem der eine Spieler a Partien gewonnen hat, der andere b Partien. Wie soll der Einsatz unter den beiden Spielern aufgeteilt werden?

Im Jahre 1654 enwickelte sich über diese Frage und über ähnliche Aufgaben ein reger Briefwechsel zwischen Pascal und Fermat. Diese Korrespondenz stellt einen Meilenstein in der Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechung dar. Pascals Lösung der Aufgabe von de Meré entnehmen wir einem Brief an Fermat, datiert mit 29.7.1654:

"Im folgenden zeige ich, wie man den gesuchten Wert jedes Spiels zwischen zwei Spielern ermittelt, die beispielsweise drei gewonnene Partien für den Sieg vereinbaren und in dem jeder 32 Pistolen (alte französische Währungseinheit) einsetzt.

Nehmen wir an, der erste Mann hat zweimal gewonnen, der andere einmal. Nun spielen sie eine weitere Partie. In dieser sind die Bedingungen so, daß der erste bei einem Sieg den ganzen Einsatz, also 64 Pistolen, bekommt, der andere aber im Falle eines Sieges erst zwei Partien gewonnen hätte, und daher müßte in diesem Fall bei einem Spielabbruch jeder seinen Einsatz erhalten, also jeder 32 Pistolen.

Nun nehmen wir an, daß der erste Mann gewinnt, so bekommt er 64 Pistolen, verliert er, so erhält er 32. Wenn die beiden die letzte Partie nicht zu spielen wünschen und ohne sie zu spielen auseinandergehen, so wird der erste Mann sagen:

Ich erhalte sicher 32 Pistolen, ich bekomme sie sogar, wenn ich verliere. Was nun die anderen 32 betrifft, so bekomme ich sie vielleicht, vielleicht bekommst sie aber du. Die Chancen dafür sind gleich. Wir wollen daher diese 32 Pistolen in die Hälfte teilen. Gib mir eine Hälfte und jene 32, die ich sicher habe."

Auch die weiteren Fälle wurden behandelt. Zunächst geht Pascal darauf ein, daß ein Spieler zwei Partien gewonnen hat, der andere keine:

"Der erste Spieler sagt: Wenn ich gewinne, so erhalte ich den gesamten Einsatz, das sind 64; wenn ich verliere. so stehen mir 48 Pistolen zu. Gib mir also die 48, die ich in jedem Fall erhalte, auch wenn ich verliere. Die restlichen 16 teilen wir in die Hälfte, denn wir haben beide die gleiche Chance, sie zu gewinnen."

Der erste Spieler erhält also in diesem Fall 48 + 8 = 56 Pistolen. Schließlich wird der letzte Fall, also daß ein Spieler eine Partie, der andere keine gewonnen hat, auf folgende Weise behandelt:

"Nun nehmen wir schließlich an, daß der erste Spieler eine Partie gewonnen hat, der andere keine. Man sieht, daß sie beim Spielen einer neuen Partie diese unter folgenden Bedingungen beginnen: Gewinnt der erste Spieler die Partie, so hat er zwei zu null Partien gewonnen. Damit würden gemäß dem vorangegangenen Fall 56 ihm gehören. Verliert er sie, so würden ihm 32 Pistolen gehören. Deshalb muß er sagen- Wenn du nicht mehr spielen willst, gibt mir die 32 Pistolen, die mir in jedem Fall gehören; nun nehmen wir jeder die Hälfte des Restes, genommen von 56. Von 56 ziehe 32 ab, es bleibt 24, dann halbiere 24. Du nimmst 12 und gibst mir 12, was mit 32 zusammen 44 ergibt".

Dieser Lösungsweg schlägt also eine Aufteilung gemäß der Wahrscheinlichkeit des Gewinnens des Spieles bei seiner Fortsetzung vor. Die verwendete Herleitungsmethode läßt sich aber auf kompliziertere Fälle nur schwer verallgemeinern.

Fermats Lösung wurde in einem leider verlorengegangenen Brief an Pascal vom 24.8.1654 expliziert. Fermat formulierte das Problem so:

"Wenn sich zwei Spieler, die mehrere Partien spielen, in einer Lage befinden, daß der erste Mann zwei Partien und der zweite drei Partien zum Gewinn es Gesamteinsatzes benötigt, wie sollte man eine gerechte Aufteilung des Einsatzes (zu diesem Zeitpunkt) vornehmen?"

Die Lösung Fermats beruhte darauf, daß er zunächst feststellte, daß zur Beendigung des Spiels maximal vier weitere Partien notwendig sind. Für diese vier Partien untersuchte er die möglichen Ergebnisse systematisch. (Siehe die nachfolgende Tabelle; gewinnt der erste Spieler, so setzen wir ein +, gewinnt der zweite, so symbolisieren wir das durch ein -.) Es gibt die folgenden 16 Möglichkeiten:

In den Fällen 1 bis 11 hätte der erste Spieler gewonnen, in den Fällen 12 bis 16 der zweite Spieler. Also sollte - nach Fermat - der erste Spieler des gesamten Einsatzes bekommen, der zweite Spieler .

Als Beispiel für die Behandlung anderer Probleme zitieren wir Fermats Antwort auf eine Frage von Pascal (dieses Problem soll ebenfalls von de Meré aufgeworfen worden sein):

"Ein Spieler möchte eine Sechs mit vier Würfen eines einzelnen Würfels erzielen. Angenommen, er hat drei erfolglose Würfe gemacht. Welchen Teil des Einsatzes darf er beanspruchen, wenn er auf seinen vierten Wurf verzichtet? Die Chance, eine Sechs zu würfeln, ist , er sollte also des Einsatzes bekommen, wenn er auf

seinen Wurf verzichtet. Nehmen wir aber an, daß wir den Wert seines vierten Wurfes einschätzen wollen, bevor irgendein Wurf getan worden ist. Der erste Wurf ist des Einsatzes wert; der zweite des Restes, also ; der dritte des Restes, also und der vierte von dem nun Verbleibenden, also des Einsatzes."

1657 wurde das erste Lehrbuch der Wahrscheinlichkeitsrechnung gedruckt. Es stammt von Christiaan Huygens und trägt den Titel "De ratiociniis in ludo aleae". In dem Buch wird unter anderem der Begriff des Erwartungswertes eingeführt. Das Buch hatte einen großen Einfluß auf die Weiterentwicklung des Gebietes, vor allem setzte sich Jakob Bernoulli eingehend mit dem Werk auseinander. Dieses erlebte mehrere Auflagen und blieb bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Standardwerk der Wahrscheinlichkeitsrechnung schlechthin.

In der vierten der insgesamt 14 Propositionen des Buches wird Paciolis Problem behandelt:

"Angenommen, ich spiele mit einem Gegner, wer zuerst drei Partien gewinnt, und daß ich zwei und er bereits eine Partie gewonnen hat. Ich möchte gerne wissen, welcher Anteil des Einsatzes mir zusteht, wenn wir vereinbaren, die verbleibenden Partien nicht mehr auszuspielen . . .Zunächst muß bemerkt werden, daß es genügt, die Anzahl der Partien, die jedem der Spieler fehlt, zu berücksichtigen. Es ist richtige daß für den Fall, daß unser Spiel darin besteht, zuerst 20 Partien zu gewinnen, und ich 19 gewonnen habe, mein Gegner 18, so hätte ich denselben Vorteil wie in dem oben angegebenen Fall, in dem ich von 3 Partien zwei und er eine gewonnen hat, denn in beiden Beispielen fehlten mir ein Punkt und meinem Gegner zwei. Als nächstes sollte man bei der Berechnung des jedem von uns zustehenden Anteils beachten, was geschehen würde, wenn wir das Spiel fortsetzten. Es ist wahr, daß ich bei Gewinn der ersten Partie das Spiel beendete und den genannten Einsatz gewänne, den ich mit a bezeichne. Gewinnt aber mein Gegner die nächste Runde, so wären unsere Chancen von da an gleich, da jedem dann ein Punkt fehlt. Deshalb könnte jeder von uns in diesem Fall a beanspruchen. Offensichtlich habe ich dieselbe Chance, die erste Runde zu gewinnen oder zu verlieren. Somit habe ich die gleiche Chance a und a zu gewinnen, gemäß Proposition I ist dies gleich der Summe der Hälften, also a, und für meinen Gegner bleibt a."

Auf analoge Weise wurden von Huygens andere Einsatzteilungsprobleme behandelt. So diskutierte er etwa ein Spiel von drei Personen, in dem der ersten und zweiten ein Punkt, der dritten zwei Punkte zum Sieg fehlen. Bezeichnen wir den Gesamteinsatz wiederum mit a, so zeigte er mit einer analogen Methode wie vorher, daß den ersten beiden Spielern jeweils a zustünden, dem dritten Spieler a.

Am Ende seines Buches formulierte Huygens fünf Probleme ohne Lösung (die Lösungen ohne Begründung - wurden erst 8 Jahre nach dem Erscheinen des Buches von Huygens publiziert). Mehrere Zeitgenossen Huygens versuchten Lösungen zu finden, was sich sehr fördernd auf die weitere Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie auswirkte. Als Kostprobe sei hier das Problem 2 zitiert:

"Drei Spieler, A, B und C, nehmen 12 Kugeln, von denen 4 weiß sind und 8 schwarz. Sie spielen mit der Regel, daß die Kugeln mit verbundenen Augen (aus einem Behälter) gezogen werden müssen. A zieht als erster, dann B und dann C. Sieger ist der, der zuerst eine weiße Kugel zieht. In welchem Verhältnis stehen die Chancen der Spieler?"

Die Mathematiker dieser Zeit beherrschten die Additions- und Multiplikationsregel für Wahrscheinlichkeiten, sie unterschieden zwischen abhängigen und unabhängigen Ereignissen und waren - wie erwähnt - mit dem Begriff des Erwartungswertes vertraut.

Einen wesentlichen Schritt in der Weiterentwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung machte Jakob Bernoulli. Zunächst gab er die Lösungen einiger der Aufgaben von Huygens an. Er zeigte, daß beim Wurf mit n Würfeln die Anzahl der Fälle mit der Augenzahlsumme m gleich dem Koeffizienten von bei Entwicklung des Ausdrucks ist. Damit benützte Bernoulli als erster das Instrument der erzeugenden Funktion. Jakob Bernoullis Hauptwerk über Wahrscheinlichkeitsrechnung ist die "Ars conjectandi". Dieses Werk wurde erst posthum 1713 veröffentlicht und besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil werden einige Probleme aus dem Buch von Huygens gelöst, im zweiten Teil werden Permutationen und Kombinationen gründlich studiert. Der dritte Teil ist der Behandlung von Problemen des Glücksspiels gewidmet. Vom mathematischen Standpunkt aus am wichtigsten ist der

vierte Abschnitt. Dieser enthält die Formulierung und den Beweis des wahrscheinlichkeitstheoretischen Satzes, der heute nach Bernoulli benannt ist. Bernoulli selbst nennt diesen Satz "Hauptsatz" oder "goldenes Theorem".

"Verhalte sich die Anzahl der günstigen Fälle eines Ereignisses zu den ungünstigen Fällen so wie r zu s, genau oder nur ungefähr, oder verhalte sie sich zur Gesamtzahl der Versuche wie r zu r + s, oder r zu t. Dieses Verhältnis liegt zwischen und . Man muß zeigen, daß man die Zahl der Versuche so wählen kann, daß für jede Zahl c, für die die Gewinnchancen c : 1 vorliegen, die Anzahl der günstigen Fälle dann zwischen diesen Grenzen liegen wird, d.h. das Verhältnis der Anzahl des Eintretens des günstigen Falles zur Gesamtzahl der Versuche liegt zwischen und ."

Implizit war dieses "Gesetz der großen Zahl" schon bei früheren Autoren angeführt worden, zum Beispiel bei Cardano. Sicherlich war Bernoulli aber der erste, der diesen Satz theoretisch untermauerte. Er schreibt über seinen goldenen Satz:

"Jedem ist auch klar, daß es zur Beurteilung irgendeiner Erscheinung nicht ausreicht, eine oder zwei Beobachtungen zu machen, sondern es ist eine große Anzahl von Beobachtungen erforderlich. Aus diesem Grund weiß selbst der beschränkteste Mensch aus einem natürlichen Instinkt heraus von selbst und ohne jegliche vorherige Belehrung (was sehr erstaunlich ist), daß, je mehr Beobachtungen in Betracht gezogen werden, desto kleiner die Gefahr ist, das Ziel nicht zu erreichen."

Leider blieb dieser letzte Abschnitt der "Ars coniectandi" unvollendet. Die von Bernoulli geplanten Anwendungen auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme kamen nicht mehr zur Ausführung.

Einen anderen Zugang zum empirischen Wahrscheinlichkeitsbegriff entwickelte man im 17. Jahrhundert in England. Hier ist vor allem John Graunt zu nennen (er wird von vielen als Begründer der Statistik angesehen), der versuchte, aus Beobachtungsdaten über das Verhalten von großen Bevölkerungsgruppen allgemeine Aussagen über die beobachteten Phänomene zu erhalten. Er zeichnete die Sterbefälle und Geburten in einem Buch auf, das er unter dem Titel "Natural und Political Observations made upon the Bills of Mortality" veröffentlichte. Dadurch wollte Graunt die Ausbreitung von Pestepidemien studieren, gelangte aber auch zu Aussagen über das Wachstum der Bevölkerung. Später wurden diese Unterlagen Grundlage für die Berechnung von Lebensversicherungen.

Im Laufe der Zeit wurden die Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf immer mehr Probleme des täglichen Lebens angewendet. Daniel Bernoulli beschäftigte sich zum Beispiel mit der Bestimmung der Wahrscheinlichkeit, in einem bestimmten Alter an den Pocken zu sterben, und inwieweit die Inokulation (dies ist die erste primitive Form der Pockenimpfung) diese Wahrscheinlichkeit verringert. Er gelangte zu dem Ergebnis, daß diese Art der Impfung das Leben unter den damaligen Verhältnissen um durchschnittlich drei bis vier Jahre verlängerte. Über dieses Resultat kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Bernoulli und d'Alembert, Bernoulli konnte aber sein Ergebnis mit Erfolg verteidigen. Daniel Bernoulli beschäftigte sich auch mit Beobachtungsfehlern. Vor allem versuchte er das Problem der Berechnung der Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit von Hypothesen unter der Bedingung, daß schon Beobachtungsergebnisse vorliegen, zu lösen. Allerdings gab erst Thomas Bayes die erste Lösung für dieses Problem, und zwar im Jahre 1764. Ein weiteres Mitglied der Familie Bernoulli, nämlich Nikolaus Bernoulli, leistete ebenfalls Beiträge zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Von ihm stammt etwa das berühmte "Petersburger Paradoxon"(das noch im 19.und 20. Jahrhundert eine Reihe von Mathematikern beschäftigte).

Dabei geht es um folgendes Spiel:

Eine Person wirft eine Münze so lange, bis "Kopf" erscheint. Erscheint Kopf, so ist das Spiel beendet. Der zweite Spieler zahlt dem ersten einen Rubel, wenn Kopf beim ersten Wurf erscheint, zwei Rubel, wenn Kopf beim zweiten Wurf erscheint, vier Rubel, wenn Kopf beim dritten Wurf erscheint usw. Welchen Einsatz muß der erste Spieler leisten, damit die Spielbedingungen gerecht sind? (Man nennt Spielbedingungen gerecht, wenn die mathematische Erwartung des Gewinns gleich dem Einsatz ist.) Die mathematische Erwartung des Gewinns des ersten Spielers ist

gleich , also gleich unendlich. Der erste Spieler müßte also eine unendlich große Summe einsetzen. Damit ist es sinnlos, so ein Spiel zu spielen.

Auch innermathematisch wurde die Wahrscheinlichkeitstheorie angewendet. So bestimmte Buffon mit seinem berühmten Nadelexperiment Näherungswerte für Tr. Dazu zog er in einer Ebene mehrere parallele Linien in einem jeweiligen Abstand d. Eine Nadel mit der Länge k wird zufällig auf diesen Raster geworfen. Buffon stellte nun die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Nadel eine der Parallellinien kreuzt. Buffon bewies, daß im Fall k die gesuchte Wahrscheinlichkeit p gegeben ist durch . Durch empirische Bestimmung von p kann man also näherungsweise bestimmen.

Dies wurde tatsächlich ausgeführt. Die Ergebnisse einiger dieser Experimente finden sich in folgender Tabelle:

Im vollen Ausmaß wendete Euler die Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung an. Sein Interesse für dieses Gebiet wurde wachgerufen, als er von Friedrich 11. von Preußen um Auskunft über die Gestaltung einer Lotterie ersucht wurde, die die Staatskasse auffüllen sollte. Aber auch in der Demographie, im Versicherungswesen und auf das Studium der Fehler bei wiederholten Beobachtungen wendete Euler die Wahrscheinlichkeitsrechnung an.

Im 18. Jahrhundert kam es auch in England zu einer weiten Verbreitung der Kenntnisse über die Wahrscheinlichkeitstheorie, vor allem durch die Publikationen von Simpson, de Moivre und Bayes.

Zum Abschluß des Kapitels wollen wir noch kurz eingehen auf die ersten Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Probleme von Entscheidungsfindungen und politischen Wahlen. Pionier auf diesem Gebiet war Jean Antoine de Caritat, Marquis de Condorcet. Condorcet war einer der führenden politischen Köpfe in der Zeit der französischen Revolution. Den ersten Abschnitt seines Buches "Essai sur l'application de l'analyse ä la probabilité des décisions rendues ä la pluralité des voix" beschreibt Condorcet so:

"Im ersten Teil nehmen wir an, daß die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Entscheidung eines Wählers bekannt ist und daß die Wahrscheinlichkeit für eine Entscheidung durch die Mehrheit der Wähler unter verschiedenen Voraussetzungen zu ermitteln ist. Zunächst wird nur eine Wahl in einem Wahlgang erörtert, dann eine solche in mehreren Wahlgängen, wo eine Wahl zwischen zwei oder drei Alternativen zu treffen ist. Schließlich wird der Fall der Wahl aus mehreren Menschen oder Objekten behandelt."

Zunächst wurden Hypothesen formuliert, unter denen die Untersuchungen vorgenommen wurden. Solche Hypothesen waren etwa:

"Es seien 2q + 1 Wähler vorhanden, die in ihrem Urteilsvermögen als identisch angenommen werden. Sei r die Wahrscheinlichkeit, daß ein Wähler richtig entscheidet und e die Wahrscheinlichkeit, daß er falsch entscheidet. Also ist r + e = 1. Es ist nun verlangt, die Wahrscheinlichkeit dafür zu finden, daß eine Mehrheit für die korrekte Entscheidung votiert."

Im Verlauf seiner Untersuchungen reflektierte Condorcet die Möglichkeiten, die für Auswahlverfahren zur Verfügung stehen. Heute werden Auswahlverfahren mittels sogenannter Auswahlfunktionen beschrieben, und diese spielen in den modernen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften unter dem Namen "Wohlfahrtsfunktionen" eine wichtige Rolle.