Die Antike

[ Die Alexandrinische Periode ]

Eukleides - oder Euklid - steht am Ende der Athenischen und am Beginn der Alexandrinischen Periode. Er wirkte um 300 v. Chr. am Museion von Alexandria, das vom Diadochen Ptolemaios Soter gegründet worden war, und bezog dort ein reichliches Gehalt aus der königlichen Kasse. Euklid faßte die gesamten mathematischen Kenntnisse seiner Zeit zusammen und bildet damit den Schlußpunkt für die Athenische Periode, aber auch den Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der Mathematik. Sein Stil und seine Art, Mathematik zu betreiben, stehen ganz unter dem Einfluß der Platonischen Akademie. Sein Hauptwerk sind die "Elemente", eine Gesamtdarstellung des mathematischen Wissens der damaligen Zeit. Er schrieb aber auch noch neun weitere Bücher, nämlich die "Figurenteilungen", die "Trugschlüsse", die "Kegelschnitte", die "Oberflächenörter", die "Porismata", die "Optik", die "Katoptrik", die "Katatomé' und die "Phainomena", von denen aber nicht alle erhalten sind. Euklid faßte somit die gesamte Mathematik der damaligen Zeit in Lehrbüchern zusammen - Nicolas Bourbaki will ihm dies heute gleichtun. Man kennt zwar keine schöpferischen Eigenleistungen Euklids, seine Werke sind aber methodisch und didaktisch hervorragend. Vor allem durch die "Elemente" hat er die gesamte Mathematik bis in unsere Zeit herauf nachhaltig beeinflußt, und es gibt mehrere mathematische Begriffe, die nach ihm benannt sind. Die "Elemente" wurden immer wieder kopiert bzw. gedruckt (erste gedruckte Ausgabe: Venedig 1482, als eines der ersten im Druck erschienenen mathematischen Bücher). Nach der Bibel sind die "Elemente" wohl das meistgedruckte Buch. Bis in unsere Tage herauf hat sich der Schulunterricht, besonders der Geometrieunterricht, auf die "Elemente" gestützt. Diese bestehen aus 13 Büchern, von denen die sechs ersten die Planimetrie, die drei nächsten die elementare Zahlenlehre, das zehnte die Theorie der Irrationalzahlen, und die drei letzten die Stereometrie behandeln. Alles wird nur theoretisch in streng logischem Aufbau behandelt. Am Anfang stehen Definitionen, Axiome und Postulate, dann folgen Sätze und Konstruktionen. Auf praktische Berechnungs- und Anwendungsmöglichkeiten wird nicht eingegangen.

Die mathematische Entwicklung der folgenden Zeit - bis zum Niedergang der Antike vollzog sich zum Großteil am Museion in Alexandria oder in engem Kontakt mit diesem "Forschungsinstitut". Die Mathematik wurde nun aber - anders als in Athen, wo sich die Bürger sehr für Kunst und Wissenschaft interessierten - zur Sache weniger Liebhaber oder Gelehrter, die vom Herrscher gefördert und bezahlt wurden (oder auch nicht, wenn dieser kein Interesse an der Wissenschaft hatte).

Aristarchos von Samos (um 280 v. Chr.) war vor allem Astronom und stellte als erster die Hypothese auf, daß die Erde sich auf einer Kreisbahn um die Sonne bewege, was von seine.n Zeitgenossen aber als Unsinn abgetan wurde. Von seinen Werken ist nur die Abhandlung "Über die Entfernung von Sonne und Mond" erhalten. Die darin angegebene Zahl ist zwar falsch, aber es werden in der Abhandlung schon in versteckter Weise Sinus und Tangens verwendet. Der bedeutendste Mathematiker des Altertums war zweifellos Archimedes (287? - 212 v.Chr.). Dieser stand wohl in Verbindung mit den Mathematikern in Alexandria und wirkte vermutlich dort auch einige Zeit, den Großteil seines Lebens aber verbrachte er in Syrakus, wo er enge Beziehungen zum Königshaus hatte. Archimedes genoß im Altertum als Wissenschaftler ungeheures Ansehen, und es sind über ihn auch zahlreiche Anekdoten überliefert, in denen er als der klassische Typ des zerstreuten Gelehrten gezeichnet wird. Die Stadt Syrakus wurde im Zweiten Punischen Krieg Tod des Archimedes dank der von Archimedes erfundenen neuen Waffen zwei Jahre lang erfolgreich gegen die Römer verteidigt und fiel schließlich nur durch eine Kriegslist. Von einem plündernden römischen Soldaten wurde Archimedes erschlagen. Archimedes hat nur Einzelabhandlungen, aber kein zusammenfassendes Werk hinterlassen. Als Astronom konstruierte er ein Planetarium, in dem die Bewegungen der Sonne, des Mondes und der damals bekannten fünf Planeten simuliert wurden. In der Mechanik leitete er streng logisch das Hebelgesetz her und verwendete es zur Berechnung der Schwerpunkte von Dreiecken, Parallelogrammen, Trapezen und Parabelteilen. In der Arbeit "Über schwimmende Körper" gewinnt er das nach ihm benannte Gesetz für den Auftrieb. Alle seine Abhandlungen über Mechanik sind axiomatisch aufgebaut und leiten auf deduktivem Weg unter Verwendung mathematischer Methoden erstaunliche Resultate her. Archimedes kann daher mit Recht als der Vater der mathematischen Physik bezeichnet werden. In seinen Abhandlungen "Die Quadratur der Parabel" und "Über Kugel und Zylinder" gibt Archimedes strenge Beweise für Flächen-, Oberflächen- und Volumsformeln der betreffenden Flächen bzw. Körper. In weiteren Arbeiten bestimmt er Volumina von Drehellipsoiden und -paraboloiden, sowie die Eilipsenfläche, ferner die Fläche innerhalb der Spiralen. In der Arbeit "Kreismessung" gibt er eine ziemlich gute Näherung für π an. In allen diesen Arbeiten verwendet Archimedes die Exhaustionsmethode, er ist daher in gewissem Sinn als der Begründer der Integralrechnung anzusehen. In verlorengegangenen Werken hat Archimedes die "Heronische Flächenformel" für das Dreieck angegeben und die halbregulären Körper bestimmt. Erhalten geblieben ist die "Psammites" (Sandrechnung). Darin zeigt Archimedes, wie man in der damals üblichen 'lionischen Ziffernschreibweise" (Buchstaben des Alphabets für Zahlen) auch sehr große Zahlen anschreiben und verarbeiten kann, indem er berechnet, wieviele Sandkörner notwendig sind, um das Universum in der damals angenommenen Größe bzw. in der von Aristarchos berechneten Größe mit Sandkörnern auszufüllen; er erhält bzw. als Ergebnis. Dies ist einer der wenigen Fälle der Antike, in dem sich ein Mathematiker mit einem Problem der "Logistik" beschäftigt.

Eratosthenes von Kyrene (um 230 v. Chr.) war gewissermaßen Konkurrent von Archimedes. ohne ihn aber jemals zu erreichen. Er hatte daher, den Spitznamen "Beta" (d.h. Nummer zwei). oder auch "Peritathlos" (d.h. Fünfkampfathlet also ein Sportler, der in mehreren Disziplinen gut, aber nirgends Spitze ist). denn ei- war Mathematiker, Geograph, Historiker, Philoloqe und Dichter. Eratosthenes war Direktor der damals weltberühmten Bibliothek von Alexandria. Unter seinen mathematischen Leistungen sind zu erwähnen eine Lösung des delischen Problerns und das nach ihm benannte Primzahlsieb. Eratosthenes gab auch die für die Antike qenaueste Messung bzw. Berechnung des Erdumfanges, und zwar erhielt er dafür den Wert von 250 000 Stadien.

Nikomedes lebte etwas nach Eratosthenes und war ebenfalls in Alexandria tätig. Er gab mit Hilfe der von ihm entdeckten Konchoide eine Lösung des Problems der Winkeldreiteilung und des Problems der Würfelverdoppelung. Wesentlich bedeutender als er und wohl der beste Geometer des Altertums war aber Apollonios von Perga (um 220 v. Chr.), der als Professor an der Akademie in Alexandria wirkte. Als Astronom war er höchstwahrscheinlich der Erfinder der Theorie der Epizyklen und der Exzenter (der Planet bewegt sich auf einer kleinen bzw. großen Kreisbahn, deren Mittelpunkt selbst einen größeren bzw. kleineren Kreis um den Beobachter beschreibt); diese Theorie war bis ins ausgehende Mittelalter herauf die Grundlage der theoretischen Astronomie. Von den mathematischen Werken des Apollonios sind viele verlorengegangen, und wir wissen von diesen verlorenen Werken nur aus Andeutungen späterer Mathematiker. So schrieb er ein Werk "Schnellrechner", in dem er an die Sandrechnung des Archimedes anknüpft, ein Werk "Über Berührungen" und das Werk "Über ebene geometrische Orte", und auch eine Arbeit "Über regelmäßige Körper". In dem Buch "Über Berührungen" wird das nach ihm benannte berühmte Berührungsproblem behandelt: Gegeben sind drei Dinge, deren jedes ein Punkt, eine Gerade oder ein Kreis sein kann. Bestimme in jedem der möglichen Fälle einen Kreis, der durch jeden der gegebenen Punkte geht und die gegebenen Geraden und Kreise berührt. Alle zehn möglichen Fälle werden von Apollonios gelöst. Das Hauptwerk des Apollonios, die "Konika" (=Kegelschnitte), ist glücklicherweise zum Großteil erhalten geblieben. Es handelt sich bei den "Konika" neben den "Elementen" des Euklid um das bedeutendste überlieferte mathematische Werk des Altertums. In diesem Werk wird eine einheitliche Zusammenfassung der damaligen Kenntnisse über Kegelschnitte gegeben, und diese Kenntnisse werden durch eigene Resultate des Apollonios noch ergänzt. Alle Kegelschnitte werden nun als Schnitte am selben Kreiskegel definiert, die Bezeichnungen Ellipse, Parabel und Hyperbel treten auf, konjugierte Durchmesser, Tangenten, Hyperbelasymptoten, Pol und Polare werden behandelt. Die Brennpunkteigenschaften der Mittelpunktskegelschnitte und die projektive Erzeugung der Kegelschnitte aus zwei Strahlbüscheln werden untersucht, kongruente und ähnliche Kegelschnitte werden betrachtet, usw. Die Methoden des Apollonios erinnern vielfach schon an die Verwendung von Koordinaten, so daß Apollonios als Vorläufer der analytischen Geometrie angesehen werden kann.

Die Kenntnisse der Griechen über Kegelschnitte blieben weitgehend theoretischer Art; in den Naturwissenschaften, und vor allem auch in der Astronomie, beschränkten sich die Griechen auf die Verwendung von Geraden und Kreisen. Erst 1800 Jahre nach Apollonios entdeckte Johannes Kepler die Bedeutung der Kegelschnitte für die Astronomie.