[ Inhaltsbestimmung in der Antike ]
Ausgangspunkt für die Entstehung der Integralrechnung war die Beschäftigung mit dem Inhaltsproblem, während die Differentialrechnung in der Behandlung des TangentenProblems wurzelte. Historisch gesehen tauchte das Inhaltsproblem viel früher auf, nämlich bereits in der Antike. Die eigentliche Beschäftigung mit der Bestimmung von Tangenten an Kurven begann erst im 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Entwicklung der mathematischen Physik.
Bereits in vorgriechischer Zeit kannte man einfache Methoden zur Bestimmung der Elächeninhalte einzelner Vielecke und Volumina einfacher Körper. Diese wurden in Form eines Rezeptes angegeben. Einige Rezepte lieferten richtige Resultate, andere grobe Näherungswerte. manche aber auch falsche Ergebnisse. So entnimmt man z.B. den Quellen der ägyptischen Mathematik, daß die Fläche von Dreiecken als halbes Produkt einer Seite mit der dazugehörigen Höhe berechnet, die Fläche eines Kreises als das Quadrat von seines Durchmessers angegeben wurde (Papyrus Rhind), die Fläche beliebiger "schmaler" Vierecke mit aufeinanderfolgenden Seiten a,b,c,d gemäß
der (falschen) Formel ermittelt wurde.
Die bemerkenswerteste Leistung der ägyptischen Mathematik auf diesem Gebiet findet sich in der Aufgabe 14 des Papyrus Moskau:
"Wenn man dir sagt: Eine abgestumpfte (quadratische) Pyramide mit der vertikalen Höhe 6, der unteren Basisseite 4 und der oberen Seite (der Deckfläche) 2. Du multiplizierst 4 mit sich, das ist 16. Du verdoppelst 4, das ist 8. Du multiplizierst 2 mit sich, das ist 4. Du addierst 16, 8 und 4, das ist 28. Du nimmst den dritten Teil von 0. das ist 2. Nun nimmst du 28 zweimal, das ist 56. Siehe, es ist 56."
Dieses Rezept liefert - übersetzt in unsere moderne Formelsprache - die folgende Volumsformel für den Pyramidenstumpf:
wenn h die Höhe, a die Seite des Basisquadrats und b die Seite des Deckfläichenquadrats bezeichnet.
Der Grundgedanke zur Erlangung solcher Rezepte liegt sicher in der Zerteilung einer vorliegenden Figur und dem darauffolgenden Zusammensetzen zu einer einfacheren Figur. Heute noch bedient man sich dieser Methode im Schulunterricht, etwa bei der Herleitung der Flächenformel eines Parallelogramms oder eines Trapezes. Durch dieses Zerteilen und anschließende Zusammensetzen war man zu einer Reihe von wichtigen Resultaten im F-alle von Vielecken gelangt. Die erste exakte Quadratur einer F-läche, die nicht von Geraden begrenzt wird, gelang -soweit wir wissen Hippokrates von Chios um 430 v. Chr. Er bestimmte die Fläche mehrerer sogenannter "Kreismöndchen", die oft auch "Mündchen des Hippokrates" genannt werden. Dazu ein Beispiel:
Gegeben sei ein gleichschenkliges rechtwinkeliges Dreieck. Wir bezeichnen die Fläche des (schraffierten) "Möndchens" , das man erhält, wenn man über der Basis und den Schenkeln des Dreiecks jeweils einen Halbkreis errichtet, mit L.
Bezeichnet man weiters L + S mit und 2S + 2T mit so erhält man unter Verwendung der Beziehung
: = 1 : 2
(dies wurde nach dem heutigen Stand unseres Wissens erst von Eudoxos formal bewiesen):
2S + 2T = 2
S + T = L + S
T = L.
Also gilt: Die beiden Mündchen haben zusammen dieselbe Fläche wie das ursprünglich gegebene Dreieck.
Man vermutet, daß Hippokrates hoffte, auf diese Weise das Problem der Quadratur des Kreises zu lösen. Er hat dies möglicherweise auf folgende Art versucht: Gegeben sei ein Kreis, dem man ein regelmäßiges Sechseck einschreibt. Sodann errichtet man über drei aufeinanderfolgenden Seiten die jeweiligen Halbkreise (siehe Abb. 163.2). Setzt man = L + S sowie = 3S + 3T und verwendet man die Bezeichnungen der Abbildung, so erhält man unter Benutzung der Beziehung
: = 1 : 4
(ein exakter Beweis wird in den "Elementen" Euklids, 12. 2 angegeben), daß
3S + 3T = 4L + 4S,
3T = 4L + S.
Könnte man L bestimmen, so hätte man die Quadratur des Kreises geschafft.
Auch kompliziertere Volumsbestimmungen wurden in der Zeit vor Archimedes bereits vorgenommen. In der "Methodenlehre" des Archimedes findet sich eine Andeutung, daß Demokritos von Abdera (um 430 v.Chr.) bereits die Beziehung zwischen dem Volumen einer Pyramide (eines Kegels) und des Prismas (Zylinders) mit derselben Grundfläche und Höhe gekannt hat. Wie Demokritos diesen Zusammenhang herausgefunden hat, können wir nur vermuten. Plutarchos lieferte einen Hinweis zu diesem Problem. Er schrieb nämlich, daß Demokritos einen Kegel in zur Basis parallele Schichten geteilt hätte, und fuhr dann fort:
"Sind diese (Schichten) gleich oder ungleich? Sind sie ungleich, so wäre der Kegel unregelmäßig, hätte viele Einbuchtungen, wie Stufen; aber wenn sie gleich sind, so hätte der Kegel die Eigenschaft eines Zylinders und wäre durch gleiche Kreise aufgebaut. All das ist ganz absurd!"
Es liegt der Schluß nahe, daß Demokritos seine Überlegungen miL dem heute Cavalierisches Prinzip genannten Gedankengang begründete: Denkt man sich Körper aus Parallelschnitten zur Basis aufgebaut, so besitzen Körper, bei denen Schnitte mit derselben Entfernung von der Basis flächengleich sind, dasselbe Volumen.
Wie wir aus dem Plutarchzitat ersehen, war die Zusammensetzung "aus vielen Schnitten" vom logischen Standpunkt aus problematisch - es war ja das Problem des Unendlichen noch nicht bewältigt. Dies kam durch die Paradoxa des Zenon von Elea deutlich zutage. Der entscheidende Schritt, der eine mathematische Bewältigung des Unendlichen ermöglichte, gelang Eudoxos dadurch, daß er folgendes Prinzip formulierte:
"Zieht man von irgendeiner Größe einen Teil ab, der nicht kleiner als die Hälfte der Größe ist, vom Rest einen Teil, der nicht kleiner als die Hälfte (dieses Restes) ist, und so weiter, so bleibt schließlich eine Größe übrig, die kleiner als jede vorgegebene Größe der selben Art ist."
Die darauf basierende Methode nennt man "Exhaustionsmethode" (der Ausdruck "Exhaustion" stammt von dem Jesuitenmathematiker Gregorius a San Vincentio). Diese Methode wurde von Euklid und Archimedes zu einem hervorragenden Beweisinstrument verfeinert. Mit Hilfe der Exhaustionsmethode konnte Archimedes eine Reihe von Flächen- und Inhaltsbestimmungen exakt durchführen. D.T. Whiteside analysierte die Anwendung dieser und vertritt die Meinung, daß sie "äquivalent zum bestimmten Cauchy-Riemannschen Integral auf einer konvexen Punktmenge" sei. In ihrer einfachsten Form finden wir die Exhaustionsmethode im XII. Buch von Euklids "Elementen".
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