Aufklärung

[ Die Entdeckung des Infinitesimalkalküls ]

Der Infinitesimalkalkül wurde von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716) und Isaac Newton (1643 - 1727) erfunden, und zwar schufen ihn diese beiden Gelehrten unabhängig voneinander. Dementsprechend kam es um diese fundamentale Entdeckung auch zu einem heftigen Prioritätsstreit, wohl dem berühmtesten in der ganzen Mathematikgeschichte. Soviel man heute weiß, hat Newton die Differential- und Integralrechnung wohl als erster gefunden, Leibniz aber hat sie als erster publiziert.

Newton studierte als Schüler von Barrow in Cambridge Philosophie, beschäftigte sich aber bald auch mit Mathematik. Seine ersten großen Entdeckungen machte er 1665/66, als die Universität wegen einer Pestepidemie geschlossen war und Newton sich in seinem Heimatort auf dem Lande aufhielt. Er entdeckte in dieser Zeit die binomische Reihe, die Grundgedanken der Differentialrechnung, das Gravitationsgesetz und die Spektralzerlegung des Lichtes. Seine Ergebnisse über die Binominalreihe hat er selbst niemals veröffentlicht, sondern nur an Bekannte weitergegeben. Er setzte diese Untersuchungen jedoch weiter fort und erhielt dabei die Potenzreihenentwicklung verschiedener anderer Funktionen, wie etwa der Funktionen sin x, , In (1+x) usw. Somit ist er neben Gregory der Entdecker der Potenzreihen und ihrer vielfachen Anwendungsmöglichkeiten. Einen Teil dieser Ergebnisse schrieb er 1669 in seiner Abhandlung "De analysi per aequationes numero terminorum infinitas" nieder. Diese Arbeit erschien erst 1711 im Druck, lag aber bei der Royal Society auf, und ihre Ergebnisse wurden Interessenten mitgeteilt. Sie enthält auch schon die Berechnung von Differentiatquotienten, und Newton scheint in ihr auch den Zusammenhang zwischen der Differentialrechnung und der Integralrechnung erkannt zu haben. Eine wesentlich ausgefeiltere Darstellung der Differential- und Integralrechnung schrieb Newton etwa 1671 unter dem Titel "Methodus fluxionum et serium infinitorum". Darin verwendet er die Bezeichnung "Fluente" für die (als zeitabhängig betrachteten) Variablen x und y und "Fluxion" für die Änderung dieser Größen, sowie die bekannten Bezeichnungsweisen für die Fluxionen von x und y. In der Arbeit finden sich ferner umfassende Quadraturmethoden mittels Reihen, Rektifikations- und Krümmungsprobleme, sowie Differentialgleichungen. Auch diese Schrift wurde erst viel später, nämlich 1736, gedruckt. In seinem dritten Manuskript zum Calculus, betitelt "De quadratura curvarum", entstanden 1676, finden sich schon Andeutungen des Grenzwertbegriffes. Gedruckt wurde dieses Werk erst 1704. Ferner schrieb Newton eine "Arithmetica universalis" (es handelt sich dabei um eine Einführung in die Algebra) und eine "Optica", die ebenfalls erst lange nach ihrer Fertigstellung gedruckt wurde. Sein berühmtestes Werk "Philosophiae naturalis principia mathematica" ist 1687 erschienen. Darin kommen Methoden des Calculus aber nur versteckt vor. Die Überschriften der drei Teile dieses Werkes, durch das sich Newton ungeheures Ansehen erwarb, lauten: Die Bewegung der Körper; Die Bewegung der Körper im widerstrebenden Medium; Das Weltsystern. Newtons große Berühmtheit führte dazu, daß er zahlreiche Ehrenämter erhielt. Sein Lebensabend war jedoch etwas überschattet durch den Prioritätsstreit mit Leibniz über die Entdeckung des Calculus. Die Hauptursache für diesen Streit war die Tatsache, daß fast alle Werke Newtons erst lange nach ihrer Fertigstellung im Druck erschienen sind. Der Grund dafür lag teilweise in der schlechten wirtschaftlichen Lage der Londoner Verleger, teils aber an Newton selbst, der nur ungern noch nicht völlig abgeschlossene Resultate publizierte. Zweifellos war Newton einer der bedeutendsten Mathematiker, die jemals gelebt haben. Neben der Entdeckung der Differential- und Integralrechnung verdanken wir ihm auch die Newtonschen Formeln für die Potenzsummen, eine Klassifikation der Kurven dritter Ordnung und die Newtonsche Regel zur näherungsweisen Lösung von Gleichungen.

Ein ebenso bedeutender Gelehrter und hervorragender Mathematiker wie Newton war Leibniz, der als Diplomat tätig war. Leibniz war ein äußerst vielseitiger Mann. Er beschäftigte sich mit Geschichte, Sprachwissenschaften, Biologie, Geologie, Philosophie und Mathematik. In der Philosophie strebte er nach einer "Scientia generalis", die er mit Hilfe einer "Lingua universalis", das ist eine formale Sprache, formulieren wollte. In dieser Lingua universalis sollte ein Kalkül, die "Characteristica universalis", eine wichtige Rolle einnehmen. Sein Geschick in der Erfindung zweckmäßiger mathematischer Bezeichnungsweisen und Symbole war sehr groß. Von ihm stammen z.B. die Namen: "Calculus differentialis et calculus integralis", "Funktion", "Koordinaten", "transzendent", sowie unsere heute noch gebräuchliche Symbolik der

Differential- und Integralrechnung (z.B. , dx, dy).

Leibniz hatte um etwa 1675 die Grundgedanken seines Calculus gefunden. In einem länger andauernden Briefwechsel mit Newton, der zum Teil über Mittelsmänner ging, teilten einander die beiden Männer ihre Ergebnisse und Methoden in einer möglichst verschleierten und versteckten Form mit, denn sie wollten wohl den anderen wissen lassen, was sie alles entdeckt und gefunden hatten, dabei aber verhindern, daß dieser die verwendeten Methoden verstehen und sich selbst aneignen konnte. 1677 wird der Briefwechsel abgebrochen. Um 1676 entwickelt Leibniz seine Symbolik der Differential- und Integralrechnung, die wir, wie erwähnt, ja heute noch verwenden. Ab 1684 veröffentlicht Leibniz in den 1682 gegründeten "Acta eruditorum" seine Ergebnisse über die Differential- und Integralrechnung und deren Anwendungen in einer Serie aufeinanderfolgender Abhandlungen. Allmählich eignen sich auch andere Mathematiker, insbesondere die Schüler von Leibniz, den Formalismus des Calculus an, und die Differential- und Integralrechnung wird rasch ausgebaut.

Weitere mathematische Leistungen von Leibniz sind die Entdeckung der Determinanten, Untersuchungen über komplexe Zahlen, sowie die Erfindung der Staffelwalzenmaschine. Auch entdeckte Leibniz neben Huygens den Begriff der kinetischen Energie. Der Prioritätsstreit zwischen Leibniz und Newton bricht um 1685 aus. Die englischen Mathematiker, die Leibniz wegen einer in jungen Jahren in London erlittenen Blamage zeitlebens als Dilettanten und Pfuscher betrachteten, behaupteten, Leibniz habe seine Infinitesimalmethoden aus einem Buch von Barrow entnommen, ohne diesen zu zitieren. Newton behauptet in seinen "Principia", daß er schon vor Leibniz die Infinitesimalrechnung entdeckt habe und Leibniz sie unter wesentlicher Verwendung von Ideen Newtons erst nachentdeckt habe. Nun griffen die englischen Mathematiker zugunsten Newtons in die Auseinandersetzung ein, die Schüler von Leibniz in Frankreich, der Schweiz und Deutschland nahmen für Leibniz Partei. Der Streit wurde immer heftiger und endete erst mit dem Tod von Leibniz und Newton. Heute weiß man auf Grund von Quellenstudien, daß Leibniz den Calculus unabhängig von Newton, wenn auch etwas später als dieser, entdeckt hat.

Der Prioritätsstreit führte zu einer Entfremdung der Mathematiker in England und Kontinentaleuropa. Diese hatte zur Folge, daß die englischen Mathematiker die formal überlegene Methode des Leibnizschen Calculus, die laufend noch verfeinert wurde, nur sehr zögernd übernahmen. Die englische Mathematik fiel dadurch ab dem Tod Newtons für ein Jahrhundert weit hinter den Stand der Mathematik auf dem europäischen Festland zurück.

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