[ Vorstudien zur Infinitesimalrechnung ]
Schon in der Antike, besonders bei Archimedes, finden sich gewisse Gedankengänge und Methoden der Infinitesimalrechnung, die aber nur zur Lösung von Einzelproblemen verwendet werden. Der Apparat der Infinitesimalrechnung selbst wurde kurz vor 1700 von Leibniz und Newton entwickelt und von der Familie Bernoulli und von Euler ausgebaut. Damit war wohl eine der bedeutendsten Entdeckungen der Menschheitsgeschichte gemacht und die Grundlage für die modernen Naturwissenschaften, aber auch die Grundlage für die moderne Technik geschaffen. Die Keime der Infinitesimalrechnung beginnen aber schon um etwa 1600 aufzusprießen. Hier ist zunächst Johannes Kepler (1571 - 1630) zu erwähnen, einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler aller Zeiten, der den Großteil seines Lebens in Osterreich verbrachte. Wenn auch seine Hauptleistungen auf dem Gebiet der Astronomie liegen, so leistete Kepler doch auch wichtige Vorarbeiten zur Johannes Kepler Infinitesimalrechnung. In seiner "Astronomia nova" kommen bereits Flächenberechnungen mit infinitesimalen Methoden vor, insbesondere hat zur Entwicklung der Integralrechnung aber Keplers Büchlein "Nova stereometria doliorum vinariorum" (Linz 1615) beigetragen (in deutscher Übersetzung "Auszug aus der uralten Messekunst Archimedis", Linz 1616). In diesem Buch werden Rechenregeln zur Ermittlung des Rauminhaltes von Fässern verschiedenen Querschnitts angegeben. Im Gegensatz zu Archimedes, der einen Teil von Keplers Resultaten schon fast zweitausend Jahre vorher hergeleitet hatte und dabei Grenzbetrachtungen anstellte - operiert Kepler mit Differentialen, die ja die ganze weitere Entwicklung des Calculus bis ins 19.Jahrhundert beherrschten, wo dann - besonders durch Cauchy - wieder der Übergang zur Grenzbetrachtung erfolgte, die in der Analysis bis in unsere Zeit herauf dominiert.
Eine wichtige Rolle unter den Vorläufern der Infinitesimalrechnung spielten auch die Jesuiten. Diese pflegten in ihren Schulen besonders die klassische Bildung und stützten sich dabei auch auf die Schriften der antiken Mathematiker. Im Anschluß an die antiken Vorläufer der Analysis (Archimedes, Heron, Pappos) leisteten mehrere Jesuitenmathematiker Beiträge zum Ausbau der infinitesimalen Methoden. Insbesondere sind hier zu erwähnen Bonaventura Cavalieri (um 1630), der das nach ihm benannte Prinzip der flächengleichen Parallelschichten aufstellte und die Formel (natürlich in geometrischer Einkleidung) entdeckte, Gregorius a San Vincentio (um 1640), der unter anderem die Summenformel für die unendliche geometrische Reihe und die Volumsformel des Zylinderhufes fand, sowie Paul Guldin (der lange Zeit in Wien wirkte), bekannt durch die nach ihm benannte (allerdings schon von Pappos entdeckte) Regel, und Antoine de Lalovera (um 1630), der ebenfalls die Rauminhalte und Schwerpunkte mehrerer Körper berechnete.
Weitere wichtige Vorarbeiten zur Infinitesimalrechnung leistete Fermat. Fermat berechnete Tangenten und Extrema von Kurven unter Verwendung des Differenzenquotienten, gab aber auch Quadraturen für verschiedene Kurven an. Um 1640 wirkte auf dem Gebiet der Infinitesimalrechnung auch Giles de Roberval, der unter anderem die Quadratur und die Tangentenberechnung für die Zykloide vornahm, Wendepunkte von Kurven berechnete und die Substitutionsformel für das bestimmte Integral entdeckte. Ein Zeitgenosse Robervals war Evangelista Torricelli, der die Quadratur der Parabel durchführte, das Volumen des Drehhyperboloides berechnete und die logarithmische Kurve untersuchte. Auch Pascal führte Quadraturen, Kubaturen und Schwerpunkt bestimmungen bei Flächen bzw. Kurven durch.
So wie in Frankreich beschäftigten sich auch in Holland mehrere Mathematiker mit Problemen der Infinitesimalrechnung. Die bedeutendsten Leistungen vollbrachte dabei Christiaan Huygens (um 1660), der sich auch als Physiker und Astronom ausgezeichnet hat. In den letzten Jahrzehnten des siebzehnten Jahrhunderts galt er unbestritten als der beste Mathematiker Europas. Zu seinen Leistungen in der Infinitesimalrechnung zählen die Rektifikation der Parabel, die Komplanation der Drehflächen zweiter Ordnung, Untersuchungen über Extremwertfragen, Tangenten und Wendepunktsprobleme, die Theorie des Krümmungsradius sowie der Evolute und Evolvente von Kurven.
Auch in England gab es wichtige Vorarbeiten zur Infinitesimalrechnung, auf die dann Newton aufbaute. Vor allem sind hier zu erwähnen John Wallis (um 1650), der Christiaan Huygens die berühmte Wallissche Produktdarstellung herleitete und verschiedene Quadraturen durchführte, sowie James Gregory (um 1660). Gregory studierte in Italien. Nachdem sich dort schon Pietro Mengoli (um 1650) mit unendlichen Reihen beschäftigt hatte, begann auch Gregory geometrische Probleme mit Hilfe von Folgen und Reihen zu lösen. So nimmt er eine Quadratur des Ellipsen-und Hyperbeisektors mittels um- und eingeschriebener Flächen vor (dabei tritt das erste Mal der Terminus "konvergieren" auf). Der Übergang von Polarkoordinaten zu rechtwinkeligen Koordinaten wird von ihm schon voll beherrscht. In einem heftigen Streit mit Huygens publiziert er seine "Exercitationes geometricae", in denen er die Potenzreihenentwicklung für den Logarithmus angibt, zu der er später noch die Potenzreihen für tan x und arctan x fand. Gregory kannte also wohl schon die Taylorsche Formel. Schließlich wirkte um 1680 in England auch Isaac Barrow, der Lehrer Newtons. In seinen "Lectiones geometricae" von 1670 behandelt Barrow einen Großteil der damals bekannten Tangenten- und Quadraturprobleme, allerdings, unter weitgehender Vermeidung des algebraischen Formalismus, auf kinematische Art. Wegen der dadurch etwas schwerfälligen Betrachtungsweise wurde die Bedeutung des Werkes von Barrow von den Zeitgenossen nicht erkannt.
Weiter mit