[ Das Hochmittelalter ]
Um 1100 begann in Europa ein stetiger Aufstieg der Wissenschaften. Dieser Aufstieg wurde aus zwei Quellen gespeist. Die eine Quelle war die Zufuhr antiken sowie arabischen Wissensgutes, welches durch Übersetzungen griechischer originale, die aus Byzanz kamen oder in Unteritalien entdeckt wurden, insbesondere aber durch Übersetzungen arabischer Texte, die in Spanien (vor allem in der Übersetzerschule von Toledo) entstanden, zugänglich wurde. Bedeutende Übersetzer waren Robert von Chester, Johannes von Sevilla, Gerhard von Cremona, Hermann von Kärnten, Adelhard von Bath. Die andere Quelle war die Entwicklung der Scholastik (an deren Anfang Anselm von Canterbury und Petrus Abaelard stehen). Von der Scholastik wird ein großangelegtes Lehrgebäude der Philosophie und Theologie errichtet und durch Übernahme von Gedanken des Aristoteles ausgebaut. Im 12. Jahrhundert durchdringt die mathematisch-logische Methode die philosophisch-theologischen Abhandlungen bereits weitgehend, und die Theologie wird von verschiedenen Autoren nach dem Muster von Euklids Elementen axiomatisch aufgebaut. Mit dem Aufstieg der scholastischen Wissenschaft entstehen auch selbständige Stätten für ihre Lehre und Pflege, nämlich die Universitäten (Paris, Bologna, Oxford, Cambridge, später Prag, Wien, Krakau usw.). Die Mathematik wird selbständiges Fach an der Artistenfakultät dieser Universitäten. An den Universitäten kommt es in der Folge zu heftigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, zunächst zwischen der neuplatonisch-augustinischen Lehrmeinung und dem Aristotelismus, erstere vertreten vor allem durch die Franziskaner (Johannes Duns Scotus), letztere durch die Dominikaner (Albertus Magnus und Thomas von Aquin), dann zwischen den Thomisten auf der einen Seite, Wilhelm von Ockham und seinen Anhängern auf der anderen Seite. Ockham leitete mit seinem Rasiermesserprinzip und seiner Abkehr von theoretischen Spekulationen die Zuwendung der Gelehrten zu den Naturwissenschaften ein und ist so in gewissem Sinn ein Vorläufer der Renaissance, deren Aufstieg sich aber nicht im Systemstreit, sondern im Rückgriff auf die antiken Quellen vollzieht.
Ein Großteil der Gelehrten des Mittelalters (soweit sie sich überhaupt mit Mathematik beschäftigten) kam über das Verfassen von Lehrbüchern des elementaren Rechnens (in indischen Ziffern) und der Elementargeometrie nicht hinaus. Es gab aber doch einige Mathematiker, die mit originellen und eigenständigen Beiträgen über das bisher bekannte Wissen hinausgingen, und zwar zunächst Leonardo von Pisa (genannt Fibonacci, um 1200), ein Kaufmann der nicht an einer Universität studiert hatte. Sein bekanntestes Werk ist der "Liber abaci". Weiters schrieb er einen "Liber quadratorum", die "Flos" (eine Aufgabensammlung) und die "Practica geometriae". Er rechnete in seinen Büchern nicht nur mit natürlichen Zahlen (wobei er durchwegs die arabischen Ziffern einschließlich Null verwendete), sondern auch mit Brüchen, mit negativen Zahlen und mit Irrationalzahlen. Er löst z.B. die kubische Gleichung mit einem auf 10 Dezimalstellen genauen sexagesimalen Näherungswert der Wurzeln. Weiters gibt er für π den Näherungswert . Sein bekanntester Beitrag zur Mathematik ist das Kaninchenproblem aus dem Liber abaci, welches auf die "Fibonacci-Folge" führt.
Jordanus Nemorarius ist der Begründer der mittelalterlichen Schule der Mechanik - er entdeckte das Gesetz
der schiefen Ebene. Er schrieb Bücher über Mechanik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie und gehört zu den ersten Mathematikern, die für frei zu wählende Zahlen Buchstaben verwenden und auf diese Art allgemeine algebraische Sätze formulieren.
Thomas Bradwardine (um 1300) wirkte in Oxford und wurde schließlich Erzbischof von Canterbury. Er schrieb unter anderem Lehrbücher der Arithmetik und der Geometrie. Vor allem von Bedeutung aber ist seine Abhandlung "De continuo", in der er Stetigkeitsfragen und die möglichen Arten des Unendlichen (potentiell Unendliches und aktual Unendliches) behandelt. In seinem "Tractatus de proportionibus" beschäftigt er sich mit Euklids Theorie der Proportionen und geometrischen Mittel.
Nikolaus Oresme (um 1350) lehrte in Paris und wurde später Bischof von Lisieux. Er setzte zum Teil die Untersuchungen von Bradwardine fort. In seinem bedeutenden Werk "Algorismus proportionum" führt er beliebige rationale Potenzen von Proportionen (d.h. von rationalen Zahlen) ein und entwickelt die Rechenregeln dafür, also die Regeln für das Rechnen mit Potenzen, wie wir sie heute kennen. In seiner Abhandlung "De uniformitate et difformitate intensionum" stellt er die Veränderung variabler Größen, wie etwa der Geschwindigkeit bei ungleichförmiger Bewegung, graphisch dar und verwendet damit erstmals in der Geschichte der Mathematik die graphische Darstellung von Funktionen; in einem späteren Werk gibt er auch die Darstellung von Funktionen zweier unabhängiger Variabler. Seine diesbezügliche Methode ist als Vorläufer der Koordinatengeometrie anzusehen und fand unter der Bezeichnung "Latitudines formarum" Eingang in die Mathematikvorlesungen der spätscholastischen Universitäten (sie wurde auch in Wien gelehrt). In seinen Abhandlungen "Calculationes" und "Intensiones" bestimmt er auf rechnerischem oder geometrischem Weg Summen von unendlichen Reihen, wie etwa von . Er war auch der erste, der zeigte, daß die harmonische Reihe divergiert, und zwar mit dem Beweis, der heute noch verwendet wird. Oresme ist damit schon entscheidend über den Wissensstand des klassischen Altertums hinausgelangt.
Um 1400 bricht die mathematische Tradition der Scholastik weitgehend ab, einerseits wohl wegen der Erstarrung der Wissenschaft im Systemstreit, andererseits wegen der um 1350 wütenden großen Pestepidemie und wegen des Krieges zwischen England und Frankreich. Die Führung auf wissenschaftlichem Gebiet übernehmen nun die Universitäten in Italien, in Polen und besonders die Wiener Universität, die zum Zentrum der Mathematik wird. Hier greift man aber weniger auf die Ergebnisse der Scholastik in Westeuropa, sondern eher wieder auf die antiken Quellen zurück.
Zurück zu den Anfängen.