Die Antike

[ Die Spätzeit ]

In der Zeit ab etwa 150 v. Chr. kam es in der griechischen Mathematik zu einem deutlichen Niedergang. Wohl traten eine Reihe von Epigonen auf, die noch einzelne offene Probleme lösten, aber es gab keine bedeutenden Neuentdeckungen mehr. Im Gegenteil, die bisherigen Entdeckungen gerieten allmählich in Vergessenheit. Lediglich in den Anwendungen der bisher bekannten Mathematik gab es noch Fortschritte, und die vorhandenen mathematischen Kenntnisse wurden in Astronomie, Geographie, Mechanik und Optik ausgewertet. Im Zusammenhang mit diesen Anwendungen wurde die Trigonometrie weiterentwickelt, und zwar als Sehnentrigonometrie (an Stelle unserer heutigen Bogentrigonometrie, was aber im Grunde dasselbe ist). Die Ursache für den Niedergang lag wohl vor allem in der Römerherrschaft, die sich mehr und mehr ausbreitete. Die Römer hatten nämlich keinerlei Interesse an der Mathematik und ihrer Förderung. Andererseits glaubt man aber, daß auch die schwerfällige und bezeichnungstechnisch ungünstige Gestalt der griechischen Mathematik sowie die Unhandlichkeit der geometrisch formulierten griechischen Algebra eine Ursache des Niederganges war. Dadurch waren nämlich die damaligen Bücher sehr schwer verständlich und für das Selbststudium ungeeignet; sie mußten daher jeweils erklärt werden. Wenn nun an einem Ort die Kontinuität einer Schule (etwa durch Kriegswirren) unterbrochen worden war, konnte die Schule kaum mehr wieder aufleben, selbst wenn die Bücher erhalten blieben.

Von den Geometern der damaligen Zeit ist Hipparchos von Nikaia (um 150 v. Chr.) von Bedeutung. Dieser berechnete eine Sehnentafel, d.h. er gab zu einer Anzahl von Kreisbögen die zugehörige Sehne an. Derartige Tafeln wurden damals anstelle von Sinustafeln verwendet. Menelaos von Alexandria (um 100 n. Chr.) baute die Trigonometrie weiter aus und beschäftigte sich auch intensiv mit der sphärischen Trigonometrie. Etwas später als Menelaos lebte und wirkte der bedeutendste Astronom des Altertums, der auch als Mathematiker beachtliche Leistungen vollbracht hat: Klaudios Ptolemaios von Alexandria (um 150 n. Chr.). Sein Hauptwerk "Syntaxis" (d.h. Zusammenstellung) gibt eine durch fast fünfzehn Jahrhunderte hindurch maßgebend gebliebene Darstellung des geozentrischen Weltsysterns. Grundlage dieser Darstellung ist die Epizyklentheorie des Apollonios in einer von Ptolemaios erweiterten und verbesserten Form. Das Werk besteht aus 13 Büchern. In Band I der Syntaxis berechnet Ptolemaios seine berühmte Sehnentafel für die Winkel von bis 180° jeweils um einen halben Grad fortschreitend (also im wesentlichen die Sinustafel von bis 90°, jeweils um einen Viertelgrad fortschreitend). Die Syntaxis des Ptolemaios wurde zum Unterschied von anderen Werken gleichen Titels "η μεγιστη συυταξισ" ("die größte Syntaxis") genannt. Die Araber machten daraus später durch Vorsetzen des arabischen Artikels al den Namen "Almagest", unter dem das Werk in die Geschichte der Astronomie eingegangen ist. Erst zu Beginn der Neuzeit wurde das geozentrische Weltsystem des Ptolemaios durch das heliozentrische Weltsystern abgelöst. Ein weiteres bedeutendes Werk des Ptolemaios ist die achtbändige "Geografiall. In zwei weiteren Abhandlungen beschäftigte sich Ptolemaios mit der Dreitafelprojektion einer Kugeloberfläche sowie mit der stereographischen Projektion der Kugel von einem Pol auf die Äquatorebene. Er kannte schon die Kreistreue und die Winkeltreue dieser Projektion. Auch ein astrologisches Werk, die "Tetrabiblos", hat er verfaßt; diesem Werk galt das brennende Interesse der indischen, arabischen und mittelalterlichen Übersetzer. Auch Heron von Alexandria (um 75 n. Chr.) ist ein namhafter Mathematiker der Spätantike. Heron war wohl der "angewandteste" unter den antiken Mathematikern. Von ihm stammt der erste erhaltene Beweis der "Heronischen Flächenformel" des Dreiecks - bekannt war die Formel schon dem Archimedes. Herons Werke bilden eine Art Enzyklopädie der angewandten Geometrie und Mechanik. Am bekanntesten unter diesen Werken sind die "Metrika" und die "Geometrika", beides eine Art von Formelsammlung, zum Teil mit Übungsaufgaben, sehr elementar, aber sehr klar und leicht zu verstehen, gewissermaßen eine Art antiker "Hütte"; Beweise finden sich darin nur gelegentlich. Heron beschäftigte sich auch mit verschiedenen Gebieten der Physik; so gab er etwa eine Ableitung des Reflexionsgesetzes, erfand eine Art von Vorläufer des Thermometers und beschäftigte sich in seiner "Dioptra" mit Problemen der Geodäsie. In seinen Werken ist das Lehrgut der ägyptischen und babylonischen Tradition verarbeitet, aber auch die Ergebnisse des Archimedes, der von ihm häufig zitiert wird, finden teilweise Verwendung.

In der Spätphase der Antike kommt es zu einem Wiederaufleben der klassischen griechischen Bildungsideale. So treten in der Zeit zwischen 100 n. Chr. und 200 n. Chr. die "Neupythagoräer" auf, die auf das religiös-weitanschauliche Gedankengut der Pythagoräer zurückgreifen. Sie beschäftigen sich dabei besonders mit zahlentheoretischen Fragen, da die natürlichen Zahlen ja in der Weltanschauung der Pythagoräer eine große Rolle spielten, erzielen aber gegenüber der klassischen Zeit keine Fortschritte. Um 250 n. Chr. tritt jedoch ein sehr bedeutender Zahlentheoretiker in Erscheinung, nämlich Diophantos von Alexandria. Über sein Leben ist fast nichts bekannt. Es ist aber sein Hauptwerk erhalten, die "Arithmetika", allerdings nicht vollständig. In seiner Bedeutung durchaus mit den großen klassischen Werken der früheren Zeit vergleichbar, ist dieses Werk aber in seinem Charakter ganz anders als die Werke der bisherigen griechischen Mathematik. Für lange Zeit glaubte man, daß nur sechs Bücher der "Arithmetika" bis in unsere Zeit erhalten geblieben sind. Diese sechs Bücher der "Arithmetika" bestehen aus 189 Aufgaben mit Lösungen. Bei diesen Aufgaben handelt es sich zum Teil um "bestimmte" Gleichungen, hauptsächlich aber um "unbestimmte" Gleichungen, d.h. Gleichungen, die freie Parameter enthalten. Als Lösungen sind ausschließlich positive rationale Zahlen zugelassen. (Unsere heutigen "diophantischen Gleichungen" sind von ähnlicher Beschaffenheit.) Dabei ist aber von einer systematischen Theorie noch nichts zu finden, sondern es werden verschiedene Lösungsmethoden für die verschiedenen Typen von Gleichungen verwendet (in der modernen Theorie der diophantischen Gleichungen ist es auch nicht viel anders). Vor kurzem wurden weitere vier Bücher der "Arithmetika" in arabischer Übersetzung aufgefunden. Sie beinhalten ebenfalls eine Sammlung von Aufgaben mit Lösungen. Die Methoden des Diophantos sind wahrscheinlich einer Tradition algebraischer Methoden zugehörig, die aus der babylonischen Algebra entspringt und sich auch in der (etwa 500 Jahre später beginnenden) Algebra der Araber fortgesetzt hat. Dies vermutet man deshalb, da sich bei Diophantos verschiedene Aufgaben finden, die auch von den Babyloniern behandelt wurden, wobei in beiden Fällen dieselben Methoden verwendet werden. Auch zeigen sich gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem Werk des Diophantos und dem Werk des großen arabischen Algebraikers al-Khwarizmi, obwohl die Araber das Werk des Diophantos erst nach al-Khwarizmi kennengelernt haben. Eine typische Aufgabe, wie sie bei Diophantos vorkommt, ist folgende:

"Ein rechtwinkeliges Dreieck so zu finden, daß die Differenz zwischen der Hypotenuse und jeder Kathete ein Kubus wird."

Bei der Behandlung dieser Aufgabe verwendet Diophantos schon eine, wenn auch primitive, Zeichenschrift. Diophantos ist also einer der Vorläufer unserer Algebra, aber auch der Vorläufer unserer Zahlentheorie.

Der letzte bedeutende Mathematiker des Altertums war Pappos von Alexandria (um 320 n. Chr.), dessen Hauptwerk die "Mathematische Sammlung" ist. Dieses Buch ist auch eine sehr wertvolle Quelle für die Geschichte der Mathematik, denn für einige Ergebnisse früherer griechischer Mathematiker, bei denen die diesbezüglichen Originalabhandlungen verlorengegangen sind, stellt die "Mathematische Sammlung" die einzige erhaltene Überlieferung dar (z.B. wissen wir nur aus diesem Werk, daß Archimedes die dreizehn halbregulären Polyeder entdeckt hat). Pappos hat in diesem Buch alles zusammengeschrieben, was er an den Werken seiner Vorgänger interessant fand. Wo er eine Erläuterung oder eine Ergänzung zu den Werken der früheren Mathematiker für notwendig hielt, formulierte er diese als Lemma. Diese Lemmata zeigen, wieviel Mühe es in dieser Zeit - etwa 600 Jahre nach der Glanzzeit der griechischen Mathematik - schon bereitete, die klassischen Werke zu verstehen. Pappos hat aber die Ergebnisse seiner Vorgänger in vielerlei Hinsicht ergänzt und erweitert. So stammt von ihm z.B. der heute als Guldinsche Regel bezeichnete Satz über das Volumen eines Drehkörpers. Dieser ist das allgemeinste Theorem der Analysis, weiches im Altertum gefunden wurde. Einen analogen Satz fand Pappos auch für die Mantelfläche eines Drehkörpers. Am berühmtesten ist jedoch der Satz von Pappos aus der projektiven Geometrie, der von ihm vollständig bewiesen wurde.

Nach Pappos wirkten in Alexandria nur noch einige wenig bedeutende Mathematiker, die sich auf die Kommentierung der Werke ihrer Vorgänger beschränkten.

Mit der Heidenverfolgung von 415 erlischt die Alexandrinische Mathematikerschule. In Athen bestand inzwischen die Platonische Akademie noch immer, und die neuplatonische Schule des fünften Jahrhunderts brachte auch noch einige Mathematiker hervor. Unter ihnen ist vor allem Proklos (um 450) von Bedeutung, da er in einem Kommentar zum ersten Buch der Elemente des Euklid in Anlehnung an Eudemos (der 300 v. Chr. lebte) einen Überblick über die frühe Geschichte der griechischen Mathematik gibt. 529 wurde die Platonische Akademie auf Befehl des Kaisers Justinian als letzter Stützpunkt des Heidentums geschlossen. Nun hielt sich die griechische Tradition der Mathematik nur mehr in Byzanz - wo man ja weiterhin griechisch sprach - und blieb dort bis etwa 1400 bestehen. Es gab in Byzanz noch einige kleinere Neuentdeckungen, vor allem aber ist die byzantinische Schule wichtig als Bewahrerin und Überlieferin der Schriften der klassischen Autoren, die von Byzanz sowohl zu den Arabern, als auch in das christliche Abendland gelangten. Als Byzanz von den Türken mehr und mehr eingeschnürt wurde, also etwa um 1400, wanderten von dort mehrere Gelehrte nach Italien aus und bildeten einen wichtigen Faktor für die Entstehung der Renaissance, die ja auch der Mathematik großen Auftrieb gab.