Aufklärung

[ Euler ]

Der überragende Mathematiker in der Blütezeit der Aufklärung und einer der bedeutendsten Mathematiker überhaupt war Leonhard Euler (1707-1783), ein Pastorensohn aus Basel und Schüler von Johann Bernoulli. Schon 1727 wurde Euler an die Akademie von St. Petersburg berufen. Er begann dort sofort eine intensive mathematische Forschungstätigkeit und schrieb angeblich sogar mathematische Arbeiten, während er mit seinen Kindern (er hatte insgesamt 13) spielte. Als er 1735 wegen Überarbeitung auf dem rechten Auge erblindete, verringerte sich seine mathematische Leistungsfähigkeit in keiner Weise. Insgesamt umfaßt sein Schriftenverzeichnis - einschließlich der nach dem Tod publizierten Abhandlungen - 886 Nummern, darunter viele dicke Bücher. Im Durchschnitt hat er pro Jahr etwa 800 Seiten geschrieben und war damit einer der produktivsten Mathematiker aller Zeiten. Von 1741 bis 1766 wirkte er an der Berliner Akademie, wohin ihn Friedrich der Große berufen hatte, dann kehrte er wieder nach Petersburg zurück. Als er durch Star vollkommen erblindete, diktierte er seine Arbeiten.

Euler hat so ziemlich zu allen zu seinen Lebzeiten bekannten Gebieten der reinen und angewandten Mathematik bedeutende Beiträge geliefert. Ein erheblicher Teil der Symbolik und Sprache unserer heutigen Mathematik geht auf ihn zurück, und es ist für einen heutigen Mathematiker - sofern er etwas Latein kann - relativ leicht, Originalwerke Eulers zu lesen. Euler war der erfolgreichste Erfinder mathematischer Bezeichnungsweisen in der Geschichte der Mathematik. So führte er z.B. die Buchstaben e, p und i in ihrer heutigen Bedeutung ein, das Zeichen und die Bezeichnungsweise f(x) für eine Funktion wurden ebenfalls von ihm eingeführt, auch die Standardbezeichnung der Eckpunkte und Seiten eines Dreiecks stammt von ihm.

Euler kann als der eigentliche Stammvater der Analysis bezeichnet werden. Denn so wie Euklid in seinen "Elementen" ein kanonisches Buch der Geometrie für das Altertum und al-Khwarizmi in seiner "Al-jabr" ein kanonisches Buch der Algebra für das Mittelalter schrieb, so schuf Euler 1748 in seinem zweibändigen Werk "Introductio in analysin infinitorum" ein grundlegendes Buch der Analysis für die nächsten hundert Jahre. In diesem Werk stellte er erstmals den Begriff der "Funktion" in den Mittelpunkt der Betrachtung. Es werden erstmals die trigonometrischen Funktionen streng analytisch (d.h. ohne Geometrie) behandelt, ebenso die zyklometrischen Funktionen, Exponentialfunktionen und der Logarithmus. Zahlreiche unendliche Reihen, aber auch unendliche Produkte und unendliche Kettenbrüche werden untersucht. Kurven und Flächen werden mit Hilfsmitteln der Analysis systematisch studiert, aufbauend auf den im ersten Band eingeführten Funktionsbegriff. Die graphische Darstellung der klassischen Funktionen wird untersucht, Parameterdarstellung und Polarkoordinaten werden systematisch ausgewertet. Im Anhang findet man die erste systematische Darstellung der analytischen Geometrie des Raumes; insbesonders werden die Flächen zweiter Ordnung untersucht, und es wird gezeigt, wie man sie mit Hauptachsentransformation auf kanonische Form bringen kann. Euler leistete auch wichtige Beiträge zu den Anfangsgründen der - sich erst später entwickelnden - Theorie der komplexen Funktionen. Er betrachtete bereits den komplexwertigen Logarithmus, berechnete den Wert von und allgemein die Darstellung jeder Potenz "komplexe Zahl hoch komplexe Zahl". in seinem großen vierbändigen Werk "Institutiones calculi differentialis" (erschienen 1765) und "Institutiones calculi integralis" (erschienen 1768 - 1770) findet man viele der heute geläufigen Resultate über gewöhnliche Differentialgleichungen, insbesondere die Theorie der linearen Differentialgleichungen. Selbstverständlich enthält das Werk auch die grundlegenden Gesetze der Differential- und Integralrechnung, man findet darin aber auch die Grundlagen der endlichen Differenzenrechnung, Normalformen für elliptische Integrale, sowie die Theorie der Gamma- und der Betafunktion. In der Analysis operiert Euler ziemlich bedenkenlos mit Differentialen und mit divergenten Reihen und macht manchmal Schlüsse, bei denen uns heute die Haare zu Berge stehen. Es kommt aber dabei fast immer das Richtige heraus. Schon 1744 schrieb Euler das erste Lehrbuch der Variationsrechnung, in dem etwa entdeckt wird, daß das Katenoid eine Minimalfläche ist.

Auch in der Zahlentheorie machte Euler bedeutende Entdeckungen, wenn er auch kein Such, sondern nur Arbeiten zu diesem Gebiet schrieb. So widerlegte er die Vermutung von Fermat, daß alle Zahlen der Form Primzahlen sind, indem er zeigte, daß durch 641 teilbar ist. Er bewies als erster den "Kleinen Fermat", führte die nach ihm benannte j -Funktion ein und berechnete ihre Werte. Er bewies die Unlösbarkeit von in ganzen Zahlen (Spezialfall des "Großen Fermat"), zeigte, daß alle geraden vollkommenen Zahlen von der Form mit einem , das Primzahl ist, sind. Auch sprach er als erster das quadratische Reziprozitätsgesetz aus, welches aber erst von Gauß bewiesen wurde.

Auf dem Gebiet der Algebra ist die "Vollständige Anleitung zur Algebra" von 1770 berührnt - vom blinden Euler in Deutschland einem Diener diktiert. Das Buch geht bis zur Theorie der kubischen und biquadratischen Gleichung und enthält auch ein Kapitel über diophantische Gleichungen höheren Grades. Es wurde Vorbild für viele spätere Lehrbücher der Algebra, wenn es auch sachlich nichts Neues enthält.

Zahlreich sind Eulers Beiträge zur angewandten Mathematik und den Naturwissenschaften. In seiner "Mechanica, sive motus scientia analytica expositall von 1736 wurde erstmals Newtons Dynamik des Massenpunktes mit analytischen Methoden entwickelt, und in seiner "Theoria motus corporum solidorum seu rigidorum" von 1765 wird die Mechanik der festen Körper auf ähnliche Art behandelt. In seiner "Theoria rnotus planetarum et cometarum" von 1774 behandelte er die Himmelsmechanik. Um 1770 schrieb er eine "Dioptrica", er verfaßte Bücher über Hydraulik, Schiffskonstruktionen, die Theorie der Musik und das Artilleriewesen.

Auch auf die "Sozial- und Wirtschaftswissenschaften" der damaligen Zeit wendete Euler die Mathematik an. Das lag ganz in der Tendenz der Aufklärung, in der man alles berechnen wollte. So schrieb Euler über Rentenrechnung, Lotterien, Lebenserwartung. Seine Untersuchungen über Lotterien führten ihn zur Kombinatorik, und hier führte er die Bezeichnung für die Binomialkoeffizienten ein (also schon fast unsere heutige Bezeichnungsweise).

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