Gleichungen

[ Die Algebra des Omar Khayyam ]

Der Höhepunkt in der Entwicklung der "arabischen" Algebra wird in der "Algebra" des Omar Khayyam erreicht. Omar ibn Ibrahim al-Khayyam (kurz Omar Khayyam) stammt aus der Stadt Nishapur in Khorasan (im heutigen Iran). Was seine Lebensdaten betrifft, sind die Quellen nicht einer Meinung. Heute wird seine Lebenszeit meist mit 1048 bis 1131 angegeben.

Der volle Titel seiner "Algebra" lautet: "Über die Beweise für die Probleme von al-jabr und al-muqabalah". Darin beschäftigt er sich systematisch mit der Auflösung algebraischer Gleichungen bis zum dritten Grad. Die Aufgaben der Algebra beschreibt Omar Khayyam so:

"Ich sage, mit Gottes Hilfe und guter Anleitung, daß die Kunst des al-jabr und al-muqabalah jene mathematische Kunst ist, deren Gegenstand die reine Zahl und die meßbare Größe ist, sofern sie zwar unbekannt ist, aber mit Hilfe der Addition zu einer bekannten Größe gefunden werden kann...."

Es wird also die Algebra als Lehre vom Auflösen von Gleichungen zwischen Polynomen mit positiven ganzzahligen Koeffizienten verstanden.

Als gesuchte Größen können positive ganze Zahlen oder auch Strecken, Flächen, Körper und Zeit (also "kontinuierliche" Größen) auftreten. Dementsprechend unterscheidet Omar Khayyam numerische und geometrische Lösungsverfahren. Er bemerkt weiter, daß im Fall von Gleichungen bis zum zweiten Grad die numerische Lösung aus der geometrischen Konstruktion folgt ("wie man mit Hilfe der "Elemente" und "Data" des Euklid beweisen kann").

Für Omar Khayyam bedeutet die Auflösung von Gleichungen das Auffinden einer positiven reellen Lösung. Für die Gleichungen dritten Grades, die sich nicht mittels Division durch die Unbekannte auf Gleichungen zweiten Grades zurückführen lassen, gelingt ihm dies durch Angabe einer geometrischen Konstruktion unter Verwendung von Kegelschnitten. (1837 zeigte P.L. Wantzel, daß eine Lösung unter alleiniger Verwendung von Zirkel und Lineal nicht möglich ist.)

Omar Khayyam bemühte sich auch, ein numerisches Lösungsverfahren für kubische Gleichungen zu finden, allerdings vergeblich. Er bemerkt dazu:

"Der Beweis dieser Formel für den Fall, daß der Gegenstand der Aufgabe eine absolute Zahl ist, ist weder für uns noch für irgendeinen anderen von denen, die diese Kunst beherrschen, möglich. Es könnte sein, daß jemand von denen, die nach uns kommen, dies erfahren wird ..."

Wie wir noch sehen werden, fanden erst die italienischen Algebraiker der Renaissancezeit ein numerisches Auflösungsverfahren für kubische Gleichungen.

Bevor wir die Gedanken Omar Khayyams nachvollziehen, wollen wir noch eine Frage klären: Warum kamen die Mathematiker jener Zeit überhaupt auf den Gedanken, Gleichungen dritten Grades systematisch zu untersuchen? Einen Hinweis dazu gibt uns Omar Khayyam selbst, der in seiner "Algebra" schreibt:

"Eine der mathematischen Operationen, die man in jenem Zweig der Philosophie benötigt, der als mathematischer bekannt ist, ist die Kunst al-jabr und al-muqabalah.

Diese wurde zur Bestimmung von numerischen und flächenhaften Unbekannten erdacht . Dabei treten Fälle auf, für die man sehr schwierige vorbereitende Sätze benötigt , die von den meisten Menschen, die diese Fälle betrachten, nicht bewiesen werden können. Auf die Alten können wir diesbezüglich nicht zurückgreifen. Vielleicht haben sie bei ihrem Studium diese nicht bemerkt, oder sie wurden bei ihren Untersuchungen nicht zu deren Diskussion gezwungen, oder ihre diesbezüglichen Abhandlungen wurden nicht in unsere Sprache übersetzt.

Von den späteren Wissenschaftlern hatte al-Mahani die Idee, die Vorkenntnisse, die Archimedes in der vierten Figur des zweiten Buches seiner Abhandlung über Kegel und Zylinder" als gegeben voraussetzte, mit den Methoden von al-jabr zu analysieren. Dabei kam er bis zum Fall der Gleichung von Kuben, Quadraten und Zahlen. Aber al-Mahani war nicht erfolgreich im Auffinden einer Lösung - auch nicht nach vielem Nachdenken. So kam er zum Schluß, daß diese Gleichung

"unmöglich zu lösen sei, und niemand fand sie bis Ibn Ja'far al-Khazin , der sie mittels Kegelschnitten löste ..."

Bei dem erwähnten Problem des Archimedes handelt es sich um folgende Aufgabe: Man bestimme eine Ebene, die eine Kugel so teilt, daß die Volumina der Kugelabschnitte in einem vorgegebenen Verhältnis stehen.

 

 

Die Aufgabenstellung wird in Abb. 111.1 für eine Kugel mit dem Radius a veranschaulicht. Sei , so erhalten wir (in moderner Schreibweise):

was auf die Gleichung

führt. Durch geeignete Substitution reduzierte Archimedes die Lösung des Problems auf die Lösung der Gleichung dritten Grades der Form:

Die Lösung dieser Gleichung durch Archimedes war lange Zeit verschollen. Erst Eutokios (6. Jahrhundert) fand ein Fragment, das offensichtlich die Lösung des Archimedes angab. Obige Gleichung wurde darin durch den Schnitt der Parabel und der Hyperbel (c - x)y = cd gelöst.

Weiters ergab ja auch das Problem der Würfelverdoppelung eine Gleichung dritten Grades. Neben diesen Problemen der griechischen Mathematik führten auch einige Untersuchungen der Araber in Geometrie (wie etwa die Bestimmung der Seite eines regelmäßigen Neunecks durch al-Biruni, einem Mathematiker, Astronomen und Geographen des 11. Jahrhunderts) und Physik auf Gleichungen dritten Grades. Ibn al-Haitam (um 1000) stieß bei seiner Beschäftigung mit der Optik auf das Problem, eine Gleichung vierten Grades zu lösen. Deren Lösung fand er mit Hilfe des Schnittes eines Kreises mit einer Hyperbel.

Die Vielzahl von Problemen, die auf kubische Gleichungen führen, erweckte das Bedürfnis nach einem systematischen Auflösungsverfahren. Die Herleitung eines derartigen Verfahrens wurde in der Algebra des Omar Khayyam angepackt. Zunächst gliederte Omar Khayyam die von ihm betrachteten Gleichungen bis zum Grad 3 in 25 kanonische Typen. Diese Typen ergaben sich daraus, daß er nur positive Koeffizienten nur, additiv verknüpfte und überhaupt nur solche Gleichungen betrachtete, die mindestens eine hungen als Beziehung zuläßt, die einzelnen Terme positive Lösung besitzen. offensichtlich stellt sich Omar Khayyam die betrachteten Gleichungen zwischen den Volumina von Körpern bzw. den Inhalten von Flächen vor (deshalb kann die Zahl 0 auch nicht als Koeffizient auftreten). [Diese griechische Denkweise geht auch aus einer Bemerkung aus der "Algebra" hervor, in der beispielsweise bei der Gleichheit dieser Zahl dieser betonte, daß einer Fläche und eine Zahl als Rechteck aufzufassen sei, dessen eine Seite die Zahl und dessen andere Seite die Zahl 1 ist. Eine Gleichung kann also nach Omar Khayyam nur eine Beziehung zwischen dimensionsgleichen Größen sein. Jede Gleichung wurde vor Beginn der Lösungskonstruktion mittels elementargeometrischer Sätze in eine solche homogene Form gebracht. So wurde zum Beispiel die Gleichung in transformiert. Die 25 kanonischen Typen von Gleichungen von höchstens drittem Grad wurden nun nach der Anzahl der Terme in drei Klassen eingeteilt, wobei in jeder Klasse sämtliche Möglichkeiten (unter den oben erwähnten Einschränkungen) angeführt wurden. Bezeichnet man mit a, b, c stets positive Zahlen, so kann man die Einteilung des Omar Khayyam wie folgt angeben (in moderner Schreibweise):

  1. Nicht "zusammengesetzte" Gleichungen; also solche, in denen nur zwei Terme auftreten:
  2. Aus drei Termen zusammengesetzte Gleichungen:
  3. Aus vier Termen zusammengesetzte Gleichungen:

Die Lösung von Gleichungen von höchstens zweitem Grad findet sich schon bei al-Khwarizmi. Die restlichen 14 Typen ((3), (13)-(25)), also alle Gleichungen 3. Grades, die eine positive reelle Wurzel haben und sich nicht auf Gleichungen kleineren Grades zurückführen lassen, werden von Omar Khayyam mittels Kegelschnitten gelöst.

Wir wollen nun eines der Lösungsverfahren des Omar Khayyam, nämlich das für die Gleichung (also für die Auffindung einer positiven Wurzel der Gleichung) vorführen. Er schreibt dazu

"Die erste Art der Gleichungen mit vier Termen ist: Ein Würfel plus Quadrate plus Seiten ist gleich einer Zahl.

Wir zeichnen , um die Seite eines Quadrats darzustellen, das gleich der gegebenen Anzahl der Seiten ist, und konstruieren einen Quader, dessen Grundfläche das Quadrat von ist, und dessen Volumen gleich der gegebenen Zahl ist. Sei dessen Höhe ."

In diesem ersten Lösungsschritt homogenisiert Omar Khayyam zunächst die zu lösende Gleichung . Er bildet q = so, daß = c, und denkt sich einen Quader konstruiert, dessen Grundfläche ein Quadrat mit Seitenlänge q ist und der das Volumen d besitzt. Bezeichnen wir die Länge der Höhe des Quaders mit p, so gilt also d = p, also p = .

"Wir zeichnen senkrecht zu. Weiters zeichnen wir gleich der gegebenen Anzahl der Quadrate auf der Verlängerung von und konstruieren über als Durchmesser einen Halbkreis DZG, und vervollständigen die Fläche BK, und zeichnen durch den Punkt G eine Hyperbel mit den Geraden BH und HK als Asymptoten. Diese wird den Kreis im Punkt G schneiden, denn sie schneidet die (zum Kreis) tangentiale Gerade, d.h. GK. Sie muß daher den Kreis in einem anderen Punkt schneiden. Möge diese den Kreis nun in Z schneiden, dessen Lage dann bekannt ist, da die Lage des Kreises und des Kegelschnitts bekannt ist. Von Z zeichnen wir Senkrechte und auf und."

In diesem zweiten Schritt konstruiert Omar Khayyam eine Figur, die er im folgenden analysiert. In dieser Zeichnung treten die einzelnen Koeffizienten der zu lösenden Gleichung an folgenden Stellen auf: = b, = p, = = q. Ziel der folgenden Ausführung ist es, zu zeigen, daß die Strecke eine Lösung der gegebenen Gleichung ist.

"Daher ist (nach Konstruktion) die Fläche ZH gleich der Fläche BK."

Die Fläche ZH ist gegeben durch , und die Fläche BK ist gleich . Die Gleichheit der beiden Flächen ergibt sich somit unmittelbar aus der Eigenschaft der konstruierten gleichseitigen Hyperbel (G und Z liegen ja auf der Hyperbel).

"Nun ist die Fläche HL beiden Flächen gemeinsam. Es ist also (nach Subtraktion von HL) die Fläche ZB gleich der Fläche LK. Also ist das Verhältnis von und gleich dem Verhältnis von und , denn ist gleich , und ihre Quadrate sind auch proportional."

Die Fläche ZB ist gegeben durch und gleich der Fläche LK, die man durch darstellen kann. Nun ist gleich , also erhält man die Proportionen : = : , woraus : folgt.

"Aber das Verhältnis des Quadrats von zum Quadrat von ist gleich dem Verhältnis von zu , wegen des Kreises. Daher ist das Verhältnis des Quadrates von zum Quadrat von gleich dem Verhältnis von zu ."

Aus dem Satz von Thales und dem Höhensatz erhält man sofort = . Dies ergibt die Proportion : =:. Mit der oben abgeleiteten Proportion gilt: : =:. Diese Proportion wird nun in geometrischer Sprache ausgedrückt:

"Daher ist der Quader, dessen Grundfläche das Quadrat über ist und dessen Höhe ist, gleich dem Quader, dessen Grundfläche das Quadrat über und dessen Höhe ist. Aber dieser letztere Körper ist gleich dem Würfel über vermehrt um den Quader, dessen Grundfläche das Quadrat über und dessen Höhe ist, die gleich der gegebenen Anzahl der Quadrate ist."

Somit wurde gezeigt, daß gilt: .

"Nun addieren wir den Quader, dessen Grundfläche das Quadrat von und dessen Höhe ist, die gleich der gegebenen Anzahl der Wurzeln ist. Daher ist der Quader, dessen Höhe ist, und den wir gleich der gegebenen Zahl gemacht haben, gleich dem Würfel über vermehrt um einen Quader, mit einer Grundfläche, die gleich der Anzahl der Seiten ist, und mit der Höhe , und vermehrt um einen Quader, dessen Grundfläche das Quadrat über und dessen Höhe , die gegebene Anzahl der Quadrate, ist. Und das ist es, was wir zeigen wollten."

Es wird also auf beiden Seiten der Gleichung der Ausdruck addiert. Es gilt also:

d.h.

Die Strecke erfüllt also jene Gleichung, die wir lösen wollten.

Omar bemerkt, daß er stets eine vollständige Analysis geben wolle, sich dabei aber kurz fasse, weshalb er nicht zu jedem Beispiel ein Zahlenbeispiel angegeben habe. Er

"beschränke sich auf die Darlegung der allgemeinen Regel und setze Vertrauen in den Verstand des Lernenden, damit der, der sich diese Abhandlung vorstellen kann, nicht durch spezielle Beispiele und die zugehörige Auswahl aufgehalten wird ..."

Nach Untersuchung der 25 Gleichungstypen werden Gleichungen betrachtet, die negative Potenzen der Unbekannten enthalten und sich auf die vorhergehenden Gleichungstypen zurückführen lassen.

Leider wurde die "Algebra" des Omar Khayyam erst im 19. Jahrhundert in Europa bekannt, hat also die weitere Entwicklung der Algebra nicht beeinflußt. Sie zeigt aber, zu welcher Vollendung die Algebra durch die "arabischen" Mathematiker gebracht wurde.

 

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